Das Lied der Luege
»Welchen Vergehens werden wir beschuldigt?«
Zum ersten Mal heftete sich der Blick des Richters auf sie. »Behinderung des Straßenverkehrs«, antwortete er knapp.
»Das soll wohl ein Scherz sein!« Susan lachte bitter. »Die Straße war wegen des Paradezuges des Königs ohnehin abgesperrt. Wir sind ganz friedlich in Richtung Westminster gegangen, als
wir
angegriffen wurden.« Susan deutete auf die verletzten Frauen, die ihre Blutergüsse demonstrativ zur Schau stellten. »Sehen Sie –
wir
sind die Opfer! Wo sind die Männer, die uns das angetan haben? Werden sie auch angeklagt?«
Der Hammer des Richters fuhr krachend auf das Pult.
»Halten Sie den Mund. Wie ist Ihr Name?«
Spöttisch zog Susan eine Augenbraue hoch.
»Soll ich jetzt den Mund halten oder Ihnen meinen Namen nennen? Sie müssen schon wissen, was Sie wollen, Hohes Gericht.«
Hinter Susans Rücken begannen einige Frauen zu kichern, und Susan hielt dem wütenden, beinahe hasserfüllten Blick des Richters mit hocherhobenem Kopf stand, obwohl dieser schmerzte, als würde der Richter mit seinem Hammer direkt auf ihre Schädeldecke einschlagen.
»Dein Name!« Ein Wärter schubste sie grob, und sie taumelte nach vorn.
»Susan Hexton«, sagte sie schließlich. Sie durfte den Bogen nicht überspannen, denn die Lage schien ernst zu sein.
»Hexton?« Der Richter runzelte nachdenklich die Stirn. »Die frühere Schauspielerin? Na, da haben wir ja gleich eine der Rädelsführerinnen vor uns. Ich verurteile Sie zu einhundert Tagen Haft. Die Nächste.«
»Warum werde ich verurteilt?« So leicht wollte Susan sich nicht geschlagen geben. »Hundert Tage wegen angeblicher Behinderung des Straßenverkehrs? Damit kommen Sie nicht durch. Ich möchte sofort einen Anwalt sprechen.«
»Genau, uns steht anwaltlicher Beistand zu.« Entschlossen trat Annie Kerr vor und wurde binnen weniger Sekunden ebenfalls zu einhundert Tagen Haft verurteilt.
»Wenn Sie jetzt nicht den Mund halten, verdopple ich die Strafe.« Der entschlossene Ausdruck des Richters ließ keinen Zweifel, dass er seine Drohung ernst meinte. In hilflosem Zorn ballte Susan ihre Hände zu Fäusten. Sie zwang sich, zu schweigen, obwohl sie vor Wut zu platzen drohte. Zwei Wärter packten Susan und hielten sie vorsorglich an den Armen fest, wohl, weil sie befürchteten, Susan könne auf den Richter losgehen.
Die nächsten Urteile fielen im Minutentakt. Hilflos musste Susan mit ansehen, wie alle Frauen zu Haftstrafen – meistens zwischen zwanzig und sechzig Tagen – verurteilt wurden. Auf Annies Forderung nach einem Anwalt erfolgte keine Reaktion. Keine Stunde, nachdem der
Prozess
begonnen hatte, waren sie wieder zurück in ihrer Zelle.
Susan wusste, was sie zu tun hatte. Auf keinen Fall würde sie diese Verurteilung einfach hinnehmen. Sie würde kämpfen, damit die Öffentlichkeit erfuhr, mit welcher Willkür gegen die unschuldigen Frauen vorgegangen wurde.
Am Abend wurden sie in den großen Speisesaal geführt. An langen Holztischen saßen auf schmalen Bänken über hundert Frauen jeglichen Alters, die die Neuankömmlinge interessiert anstarrten. Susan hörte vereinzelt das Wort
Suffragetten
, und sie bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. Als eine Wärterin einen Blechteller mit zerkochten Kartoffeln und ebensolchem, gräulichem Gemüse vor sie stellte, schob sie den Teller demonstrativ zur Seite. Annie, die schräg gegenübersaß, zögerte keinen Moment und tat es ihr gleich. Dies blieb von den anderen Frauenrechtlerinnen nicht unbemerkt. Alle verweigerten das Essen und verschränkten die Arme abwehrend vor der Brust. Ein Raunen ging durch die Reihen der anderen Inhaftierten, das sofort mit dem scharfen »Beim Essen wird nicht gesprochen!« einer Wärterin unterbunden wurde.
Susan hatte keine Vorstellung davon, was nun folgen würde. Sie wusste jedoch, dass ein Hungerstreik bisher immer den gewünschten Erfolg erzielt hatte. Emmeline Pankhurst hatte mehrere überstanden, ebenso ihre Töchter Sylvia und Christabel. Im Augenblick war es für sie und die anderen Frauen die einzige Möglichkeit, gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr, zu protestieren.
Am nächsten Tag brachte man Susan in eine fensterlose Einzelzelle. Blessington, der die Haftanstalt Holloway führte, hatte sofort erkannt, dass Susan Hexton die Rädelsführerin der hier inhaftierten Suffragetten war. Er musste ihren Willen brechen, dann würde er mit den anderen Frauen leichtes
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