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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Eiern und saurer Milch in den Magen gegossen. Obwohl dies ein massiver Eingriff in den Körper eines Menschen bedeutet, ist bei dieser verabscheuungswürdigen Prozedur kein Arzt anwesend. Die Münder der Frauen bluten, die Speiseröhren sind wund, wenn nicht sogar verletzt, und was dies mit dem Selbstwertgefühl der Bedauernswerten macht, mag jeder Leser und jede Leserin – Letztere ganz besonders! – selbst beurteilen!
    Man verweigert den Frauen nicht nur ärztliche Hilfe, sondern auch einen Anwalt, und behandelt sie schlimmer als einst die Sklaven, für deren Befreiung unser Land vehement gekämpft hat.
    England rühmt sich als fortschrittliche Nation, wenn nicht als die modernste der ganzen Welt. Die verabscheuungswürdigen Maßnahmen der Zwangsernährung und die Behandlungen der Suffragetten sind jedoch ein Rückschritt in die finstersten Zeiten des Mittelalters, was von jedem intelligenten und aufrechten Bürger unseres Landes zutiefst verurteilt werden muss …
    Wer nun glaubt, dies sei der Fantasie eines Journalisten entsprungen, dem sei gesagt, dass unserer Zeitung schriftliche Aussagen von Frauen vorliegen, die diese menschenunwürdige Behandlung genau jetzt, wenn Sie, liebe Leser und Leserinnen, diesen Artikel in den Händen halten, im Holloway-Gefängnis erleiden müssen. Während Sie sich Ihr Frühstück mit Eiern, gebratenem Speck und Toast schmecken lassen, wird soeben einer kranken, schwachen und vor allen Dingen unschuldigen Frau der Gummischlauch in den Rachen gestoßen …
    Innerhalb von zwei Tagen verdreifachte sich die Auflagenstärke der Zeitung, und die Druckerpresse lief Tag und Nacht. Als Nächstes berichtete
The Guardian
, eine Zeitung, die den Liberalen zuneigte, und schließlich auch die konservative
The Daily Telegraph
über die Zustände in den englischen Frauengefängnissen und was den Suffragetten dort angetan wurde. Lediglich die konservative
Times
hielt sich bedeckt, brachte nur einen kleinen Artikel im Innenteil, der mit den Worten endete, die Frauen wären an ihrem Schicksal selbst schuld.
    Obwohl Doro jeden Abend bis weit nach Mitternacht an der Garderobe des
Royal Court Theatre
arbeitete, war sie Morgen für Morgen um sechs Uhr im Büro der
WSPU
. Die Telefone standen nicht mehr still, und die Leute rannten ihnen regelrecht die Tür ein. Noch vor wenigen Tagen waren sie auf der Straße beschimpft, mit faulem Obst beworfen und geschlagen worden – jetzt plötzlich erhielt die Gruppierung so große Zustimmung wie niemals zuvor.
    Manchmal kamen auch Frauen von Oberhausabgeordneten ins Büro. Sie verbargen ihre Gesichter hinter Schleiern, denn ihre Ehemänner durften nicht wissen, dass sie mit den Suffragetten sympathisierten. Von ihrem Haushaltsbudget zweigten sie Geld ab, das sie spendeten, und Doro nahm gern jeden Penny entgegen. Sie hätte sich zwar gewünscht, auch diese Frauen wären ihren Männern gegenüber zu ihrer Meinung gestanden, doch sie konnte nicht alles auf einmal erwarten. Von dem Geld bezahlte Emmeline Pankhurst renommierte Anwälte, die für die Freilassung der Inhaftierten kämpften, und auch Keir Hardy ließ nicht locker, im Unterhaus täglich auf die Zwangsernährungen hinzuweisen.
     
    In der ersten Dezemberwoche wurden die Frauen freigelassen. Es gab keine Erklärung, keine Anhörung oder gar eine Entschuldigung. Zwei Wärter kamen in Susans Zelle, führten sie in einen Waschraum, wo sie ein Bad in lauwarmem Wasser nahm und ihre eigenen Kleider vorfand. Dann brachte man sie zum Tor. Susan stellte keine Fragen. Sie war so schwach, dass sie kaum laufen konnte, jeder Knochen und Muskel in ihrem Körper schmerzte, und die Kopfschmerzen raubten ihr beinahe den Verstand. Vor dem Tor warteten Emmeline Pankhurst, Doro und Annie Kerr, die man bereits vor zwei Tagen entlassen hatte. Mit einem Stöhnen sank Susan in Doros Arme, und die Freundin strich ihr beruhigend übers Haar.
    »Es ist vorbei«, flüsterte Doro. »Sie haben alle Suffragetten entlassen, der Druck der Bevölkerung war zu groß. Sogar in Amerika erregte dieser Massenhungerstreik Aufsehen, zumal es unseren amerikanischen Mitstreiterinnen keinen Deut besser ergeht.«
    Susan nickte, zu geschwächt, um etwas erwidern oder sich gar freuen zu können.
     
    Sie schlief drei Tage. Ihr Schlaf wurde nur unterbrochen, wenn Doro versuchte, ihr eine gehaltvolle Hühnerkraftbrühe einzuflößen.
    »Langsam, Susan«, mahnte Doro, als Susan die Suppe gierig hinunterstürzen wollte. »Du musst dich erst wieder

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