Das Lied der Luege
Königs warteten. Zuerst waren die Passanten, ebenso wie die Polizei, die zu Fuß und zu Pferd überall postiert war, um die Sicherheit des Königs zu gewährleisten, vor Überraschung stumm, als der Aufmarsch der Frauen an ihnen vorbeizog. Dann zeigten sich jedoch erste Reaktionen unter dem Publikum.
»Recht so! Zeigt’s den Männern nur!« »Gleiches Recht für alle!« oder »Nieder mit der Unterdrückung der Frauen!«, ertönten einige Rufe.
Die Polizisten sahen sich unsicher an, sie wussten nicht, ob sie die Frauen gewähren lassen oder einschreiten sollten. Selbstverständlich hatte Mrs. Pankhurst die Parade nicht angemeldet, denn sie hätte niemals eine Genehmigung erhalten. Dieses Mal hatte offenbar auch niemand den Aufmarsch im Vorfeld verraten, daher gab es für die Polizei keine Anweisung, wie sie sich zu verhalten hatte. Die große Anzahl der schweigend marschierenden Frauen ließ sie erkennen, dass das hier heute keine normale Demonstration war.
Susan lachte in sich hinein. Ihr Plan schien aufzugehen. Immer wieder drängten sich Reporter durch die Menge und richteten ihre Fotoapparate auf die Frauen. Morgen würden die Bilder in allen Zeitungen Englands abgedruckt sein, und nach diesem Tag würde die Regierung die
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nicht mehr ignorieren können.
»Wenn du meine Frau wärst, würde ich dich windelweich prügeln!«, rief plötzlich ein Mann direkt neben Susan und schüttelte drohend die Faust.
»Genau, euch Weibern muss ein richtiger Mann nur zeigen, wo’s langgeht«, stimmte ein anderer ein. »Ich würde euch solche Flausen schnell austreiben.«
»Frauenwahlrecht! Pah! Es besteht ja wohl kein Zweifel daran, dass eure Gehirne gar nicht in der Lage sind, zu begreifen, was das bedeutet.« Ein Mann drängte sich durch die Menge und stellte sich Susan in den Weg. Er grinste höhnisch. »Was wollt ihr denn machen, wenn ihr wählen dürftet? Uns etwa vorschreiben, was wir tun sollen, oder was?«
Mit unbewegter Miene ging Susan an dem Mann vorbei. Sie hatte geahnt, dass es Missstimmungen im Publikum geben würde, und auch an das Hohngelächter war sie gewöhnt.
Plötzlich flog ein matschiger Apfel und traf Doro am Hals. Stoisch wischte Doro die Reste ab und nickte Susan stumm zu. Dann jedoch brach plötzlich der Tumult los. Später hätte Susan nicht mehr sagen können, was der Auslöser war, dass die männlichen Zuschauer auf die Straße strömten und die Frauen angriffen.
»Ihr elendigen Weiber! Verschwindet endlich von den Straßen!« Offenbar hatte der Mann, der Susan grob zu Boden stieß, getrunken, denn während er mit seiner Schuhspitze ihr immer wieder in die Seite stieß, glänzten seine Augen glasig.
Obwohl sie mehrere tausend waren, waren sie dem Pöbel nicht gewachsen, denn es wurden immer mehr, die nun auf die Frauen einschlugen, sie zu Boden drückten und grob an den Haaren zogen. Die Männer grölten und lachten, machten sich einen Spaß daraus, die friedlich demonstrierenden Frauen zu misshandeln und zu quälen.
Susan sah, wie die Polizisten mit ausdrucksloser Miene dastanden und nicht eingriffen. Einige von ihnen drehten sogar den Kopf zur Seite und taten so, als würde nichts geschehen.
»So helft uns doch!«, schrie Susan. Ein Polizist direkt neben ihr wandte ihr jedoch demonstrativ den Rücken zu und schritt die Straße hinunter, als würde sie nicht mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegen.
Aus Susans Mundwinkel spritzte Blut, als die Faust eines Mannes sie mitten ins Gesicht traf. Zu ihrem Entsetzen mischten sich nun auch Passantinnen in die Prügelei ein, und es war nicht mehr auszumachen, wer Freund und wer Feind war.
Dieses Mal wurde das Aufheulen der Polizeisirenen von Susan freudig begrüßt. Endlich schritten sie ein, den Pöbel aufzuhalten. Überall lagen wimmernde und blutende Frauen im Schmutz der Straße, manche bewegten sich nicht mehr, und Susan befürchtete das Schlimmste. Zu ihrem Entsetzen musste sie jedoch erkennen, dass die Polizei, die nun endlich in das Geschehen eingriff, nicht die Männer, die grundlos auf die Frauen eingeschlagen hatten, in Gewahrsam nahm, sondern die Frauen packten und in die Wagen zerrten. Als zwei Polizisten sie an den Armen ergriffen und über die Straße schleiften, wehrte sich Susan verbissen. Die Männer waren jedoch stärker.
»Lasst mich los! Ich habe nichts getan! Wir wurden angegriffen!«
»Halt endlich dein Maul!« Eine Faust krachte gegen Susans Schläfe, und sie verlor das Bewusstsein. Sie merkte nicht mehr,
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