Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
Vom Netzwerk:
dass sie wie ein Mehlsack in den vergitterten Wagen geworfen wurde.

28. Kapitel
    N ur langsam kam Susan wieder zu sich. Ihr Kopf dröhnte, vor ihren Augen schien eine Nebelwand zu liegen, und ihr war furchtbar schlecht. Sie musste mehrmals blinzeln, bis sie begann, im Dämmerlicht verschwommene Konturen zu erkennen. Man hatte sie in eine Zelle gebracht, in der schmutzige Matratzen auf kaltem Zementboden lagen.
    »Sie kommt zu sich.« Ein Schatten kniete neben Susan, und sie fühlte, wie sich ein kühler, feuchter Lappen auf ihre Stirn legte.
    »Durst …«, flüsterte Susan, und gleich darauf wurde ihr ein Becher aus Blech an die Lippen gesetzt. Hastig trank sie, obwohl das Wasser lauwarm und abgestanden war. Plötzlich revoltierte ihr Magen. Sie konnte gerade noch den Kopf zur Seite drehen, um die Matratze nicht zu beschmutzen.
    »Du hast wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Bleib einfach ganz still liegen.«
    Endlich gelang es Susan, die Frau, die neben ihr kniete, anzusehen. Sie erkannte in ihr eine der ehrenamtlichen Suffragetten, konnte sich aber nicht an deren Namen erinnern.
    »Annie Kerr.« Die Frau, die etwa in Susans Alter war, lächelte, denn sie hatte die Frage in Susans Augen gelesen. »Und du bist Susan Hexton, nicht wahr? Die ehemalige Schauspielerin Peggy Sue. Ich habe dein Interview mit großem Interesse gelesen und mich daraufhin entschlossen, meinen Beitrag zum Kampf für unser Recht zu leisten.«
    »Es tut mir leid …«, flüsterte Susan, wurde aber sogleich unterbrochen.
    »Dazu besteht kein Grund. Wir sind alle aus freien Stücken zu der Parade gekommen und haben friedlich demonstriert.«
    »Richtig, wir wurden grundlos angegriffen«, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund. Erst jetzt bemerkte Susan, dass sie sich in einer Sammelzelle zusammen mit fünf anderen Frauen befand. Alle sahen ebenso lädiert aus wie sie selbst, hatten Blutergüsse im Gesicht und an den Armen, und ihre Kleider waren zerrissen und vom Straßenstaub verschmutzt. Zum Glück schien aber keine ernsthaftere Verletzungen davongetragen zu haben.
    »Wo sind wir?«, fragte sie.
    »Im Holloway. Uns hat man in London gelassen. Ich habe jedoch gehört, dass einige in die Gefängnisse Aylesbury und Winson Green in Buckinghamshire gebracht worden sind. Offenbar ist Holloway zu klein geworden.«
    »Wie viele wurden verhaftet?«, fragte Susan bang. Annies Antwort bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen.
    »Ganz genau hat man es uns nicht gesagt, es sollen jedoch über zweihundert Frauen sein.«
    Susan richtete sich auf und ignorierte das Schwindelgefühl, das sie sogleich erfasste. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, bis die Zelle aufhörte, sich zu drehen.
    »Was ist mit Mrs. Pankhurst? Und kennt jemand von euch Dorothea Hawkins? Sie war direkt neben mir, als die Meute auf uns losging.«
    Die Frauen schüttelten den Kopf, und Annie meinte, dass Emmeline Pankhurst nicht unter den Inhaftierten war.
    »Ich bin froh, dass du wieder aufgewacht bist.« Sie lächelte Susan freundlich, aber auch besorgt an. »Du warst fast zwei Tage bewusstlos, die Wärter weigerten sich allerdings, einen Arzt kommen zu lassen. Sie meinten, wenn du verreckst, dann wäre das deine eigene Schuld.« In hilflosem Zorn ballte Annie die Hände zu Fäusten. »Heute Nachmittag werden wir vor Gericht gestellt.«
    »Vor Gericht?« Susan lachte bitter. »Welchen Vergehens will man uns anklagen? Wir haben nichts getan. Was ist mit den Männern, die uns zusammengeschlagen haben?«
    Annie Kerr stieß einen verächtlichen Laut aus.
    »Von denen wurde natürlich niemand in Gewahrsam genommen. Die Polizei ist doch ganz froh, dass es dieses Mal nicht sie war, die uns niederknüppelten. Sie brauchten uns nur noch aufzulesen und einzusperren.«
    »Man kann uns nicht verurteilen.« Entschlossen schüttelte Susan den Kopf. »Man wird uns noch heute gehen lassen, denn wir sind unschuldig. Mehr noch – wir sind die Opfer, die Gerechtigkeit fordern werden!«
     
    Vier Stunden später gab Susan ihren Glauben an die Gerechtigkeit, den sie sich trotz allem noch bewahrt hatte, auf. Man hatte sie und rund drei Dutzend andere Suffragetten in einen provisorisch zu einer Art Gerichtssaal hergerichteten Raum geschleppt, damit man die Frauen nicht aus dem Gefängnis in die Stadt fahren musste. Der Richter sah die Frauen nur flüchtig und desinteressiert an, als er mit lauter, strenger Stimme verkündete, ihnen werde der Prozess gemacht.
    Susan sprang auf.

Weitere Kostenlose Bücher