Das Lied der Luege
ans Essen gewöhnen.«
In den folgenden Wochen erholte Susan sich zusehends, ihr ohnehin zierlicher Körper war jedoch deutlich abgemagert. Die Wunden an und in ihrem Mund verheilten, sie hatte keine Magenschmerzen mehr, doch die Verletzungen, die die Haft und die Zwangsernährung in ihrer Seele angerichtet hatten, würden lange brauchen, um zu heilen. Wenn überhaupt – vergessen würde sie die Zeit im Holloway-Gefängnis niemals.
Durch die große Aufmerksamkeit der Presse war die Regierung gezwungen, sich erneut mit den Anliegen der Frauenrechtlerinnen zu beschäftigen. Keir Hardy kam regelmäßig vorbei und berichtete von den stundenlangen Debatten im Unterhaus, die jedoch zu keinem Ergebnis führten. Zwar begannen immer mehr Männer, über das Frauenwahlrecht wenigstens nachzudenken, für eine Mehrheit im Unterhaus würde es jedoch noch lange nicht reichen.
Der Kampf der
WSPU
ging weiter – gewalttätiger als jemals zuvor. Die Frauen fürchteten sich nicht vor eventuellen Maßnahmen, denn sie wussten, wenn sie jetzt nicht weiterkämpften, wäre alles, was sie bisher erreicht hatten, umsonst gewesen. Bis zum Frühjahr 1913 hielt sich Susan bei solchen Aktionen und bei Aufmärschen zurück, sie nutzte lieber ihre unfreiwillige Popularität und reiste durch England, um bei zahlreichen Veranstaltungen zu sprechen. Überall schlug ihr große Sympathie entgegen, wenngleich es auch immer wieder zu Pöbeleien kam. Angegriffen wurde sie jedoch nie. Beinahe war es so wie zu der Zeit, als sie noch Peggy Sue, die gefeierte Schauspielerin, gewesen war. Die Leute jubelten und pfiffen, wenn sie die Bühne betrat, sie lauschten schweigend, wenn Susan mit lauter und klangvoller Stimme sprach, und danach musste sie Dutzende von Händen schütteln. Irgendwie war es ähnlich und doch völlig anders. Früher hatte Susan die Menschen unterhalten, hatte versucht, mit ihrem Schauspiel und Gesang das zahlende Publikum für ein oder zwei Stunden von deren Alltagsnöten abzulenken und diese vergessen zu machen – heute wollte sie die Zuhörer aufrütteln. Wollte, dass die Menschen einsahen, dass ein Land sich nicht als modern und fortschrittlich bezeichnen konnte, das der Hälfte der Bevölkerung verbot, sich aktiv an den Gesetzen zu beteiligen.
»Ihr müsst streiken!«, rief Susan bei einer Rede in Manchester. Hier arbeiteten sehr viel mehr Frauen als Männer in den Baumwollspinnereien. »Legt die Arbeit nieder, dann werden die Männer sehen, dass ohne uns Frauen die Wirtschaft in diesem Land lahmgelegt wird.«
»Und wir verlieren unseren Arbeitsplatz!«, kam der berechtigte Einwurf einer Frau.
Susan nickte, sie wollte nichts beschönigen. »Solange ihr Einzelpersonen seid, mag das stimmen. Wenn jedoch Tausende von Frauen im ganzen Land in den Ausstand treten, dann wird uns nichts geschehen. Die hohen Herren können es sich nicht erlauben, alle zu entlassen. Dann können sie ihre Fabriken gleich schließen.«
Susans Worte und Forderungen fielen leider nur zum Teil auf fruchtbaren Boden. Die meisten Frauen hatten zu große Angst um ihre Arbeitsplätze, an denen ihre ganze Existenz hing.
Freudig überrascht erhielt Susan im März einen langen Brief von Alice Paul, der amerikanischen Emmeline Pankhurst, wie sie auch genannt wurde. Alice Paul, ein Jahr jünger als Susan, hatte in England Sozialarbeit studiert, dabei die Bekanntschaft von Christabel Pankhurst gemacht und war der
WSPU
beigetreten. Nach ihrer Rückkehr in die Staaten schloss sie sich der dortigen Frauenrechtsbewegung an und war heute eine der führenden Köpfe in Washington. Am Tag der Amtseinführung Präsident Wilsons organisierte Alice Paul eine große Parade, da der Präsident den Frauenrechtlerinnen gegenüber bisher nur Desinteresse bekundet hatte. Dieser Aufmarsch endete in einem ähnlichen Desaster wie der in England. Auch Alice Paul hatte Haft und Zwangsernährung zu ertragen, doch machte sie dies nur noch stärker. Sie schrieb:
Überall auf der Welt kämpfen Frauen für unsere Rechte. Wir dürfen nur niemals aufgeben, gleichgültig, mit welchen Maßnahmen versucht wird, uns zu unterdrücken. Vielleicht werden wir das Erreichen unserer Ziele nicht mehr erleben, wir müssen jedoch an unsere Töchter und deren Töchter denken und an alle Frauen, die ihnen folgen …
Dieser Brief gab Susan neuen Mut. Amerika war ein sehr großes Land und Vorreiter in so manchen Dingen. Sie dachte an Antonia Derrington, die sich auf der
RMS Carpathia
ihrer freundlich
Weitere Kostenlose Bücher