Das Lied der Luege
geradezu überwältigst.« Doro nahm kein Blatt vor den Mund. »Du erdrückst den Jungen regelrecht mit deiner Fürsorge. Gib ihm Zeit, sich an die drastische Veränderung in seinem Leben zu gewöhnen.«
Susan seufzte und nickte.
»Ich werde es versuchen, denn ich möchte ihn nicht noch einmal verlieren.«
An dem Abend, nachdem Paul gestorben war, hatte Jimmy sie mit großen Augen angesehen, als sie zu ihm und Kate gekommen war. Obwohl Susan Kate als wenig intelligent, fast schon naiv, eingeschätzt hatte, musste sie der jungen Frau Bewunderung zollen, wie feinfühlig sie Jimmy die Nachricht über den Tod seines Vaters und dass er ab sofort bei seiner richtigen Mutter leben würde, beibrachte.
»Dein Dad hat es so gewollt«, sagte Kate. »Weißt du, ich gehe von hier fort und kann dich nicht mitnehmen. Außerdem wartet deine Mutter schon lange darauf, dass ihr beide zusammenleben könnt.«
Jimmy hatte unsicher von einer Frau zur anderen gesehen, schweigend seine Sachen gepackt und war Susan gefolgt. Allerdings hatte er kein Wort gesprochen, hatte nicht gefragt, warum Susan sich bisher nicht um ihn gekümmert hatte und was jetzt geschehen würde. Im Bus hatte Susan versucht, ein Gespräch mit dem Jungen zu beginnen, hatte über das Wetter geplaudert und ihn nach der Schule gefragt, in der jetzt gerade Ferien waren. Kate hatte ihr gesagt, dass sie Paul, bevor er zur Front ging, davon überzeugen konnte, Jimmy zur Schule zu schicken. Der Junge hatte jedoch mit gesenktem Kopf geschwiegen und auf keine ihrer Fragen reagiert. Auch die folgenden Tage blieb er stumm und weigerte sich, zu essen. Susan hatte in ihrem Zimmer ein zweites Bett aufgestellt, und in den Nächten hörte sie, wie Jimmy sich ruhelos von einer Seite auf die andere wälzte und von düsteren Träumen geplagt wurde. Wenn sie dann aufstand, ihn zu trösten, stemmte er sich mit all seiner kindlichen Kraft gegen sie und starrte Susan an, als hätte er regelrecht Angst vor ihr. Kein einziges Mal, auch nicht an Pauls Beerdigung, hatte Susan Jimmy weinen sehen. Der Junge schien wie versteinert zu sein.
Susan war Doro dankbar, dass sie ihren Sohn ohne weiteres in die Wohnung aufnahm. Von dem Geld, das Paul ihr gegeben hatte, hatte sie nichts erzählt. Nicht, weil sie Doro nicht vertraute, Susan war aber noch nicht schlüssig, was sie jetzt tun wollte. Um den ganzen Tag bei Jimmy sein zu können, hatte sie ihre Arbeit in der Uniformfabrik gekündigt. Doro hatte zwar verständnislos den Kopf geschüttelt, aber nur gesagt: »Du musst wissen, was du tust.«
Der erste Gedanke, der Susan am Krankenbett Pauls durch den Kopf geschossen war, nahm immer mehr Gestalt an. Obwohl der Krieg London nicht direkt bedrohte – ein Angriff der Deutschen auf die Stadt war nicht zu erwarten, dazu hatten die Feinde an den anderen Fronten genügend zu tun –, dennoch war die Kriegsstimmung überall zu spüren. In den Geschäften gab es nicht mehr alles zu kaufen, man sprach davon, dass bald auch Lebensmittel knapp werden würden, die Fabriken fuhren Sonderschichten, so dass ihre Kamine rund um die Uhr qualmten und die Luft über der Hauptstadt zum Schneiden dick war, und überall herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Erinnerung an das Cottage auf den Klippen von Polperro ließ Susan nicht los. Sicher würde auch in Cornwall dieser furchtbare Krieg allgegenwärtig sein, aber allein die klare Luft und die unendliche Weite des Meeres würden nicht nur Jimmy, sondern auch ihr selbst guttun.
Susan fragte sich, warum es, wenn sie aufs Land wollte, ausgerechnet Polperro sein musste. Sollte sie es sich wirklich antun, in der Nähe Anabells zu sein, ohne ihre Tochter sehen zu dürfen? Es gab zahlreiche schöne Orte an der Südküste – auch in Dorset oder in Devon würden sie und Paul sicher ein schönes Plätzchen finden. Susan wusste, dass sie unvernünftig war, dennoch konnte sie nicht anders handeln.
Am Montagmorgen suchte sie einen Makler in der King’s Street auf, und eine Woche später unterschrieb sie den Kaufvertrag für ein Cottage in Polperro, ohne das Haus vorher gesehen zu haben. Der Makler hatte ihr lediglich ein paar Fotografien gezeigt, der Preis war jedoch überraschend niedrig.
»In diesen Zeiten werden kaum Häuser ge- und verkauft«, sagte der Makler. »Es gibt keine jungen Männer, die sich darum kümmern könnten, und die Frauen haben genug damit zu tun, ihre Familien durchzubringen.«
Der Schlüssel lag schwer in Susans Hand, als sie nach Hause ging.
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