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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Sie wusste nicht, ob sie nicht einen großen Fehler machte, doch nun gab es kein Zurück mehr.
     
    Jimmy, dem der Hunger schließlich doch im Magen rumorte und der vor ein paar Tagen angefangen hatte, lustlos in seinem Essen herumzustochern und ab und zu eine Gabel voll in den Mund zu schieben, hatte die Mitteilung, sie würden ans Meer ziehen, mit seiner üblichen stoischen Ruhe zur Kenntnis genommen. Doro zeigte sich allerdings überrascht und traurig.
    »Du kommst doch wieder?«, fragte sie bang.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Susan ehrlich. »Für die nächste Zeit muss ich aus London fort. Das Haus in Cornwall ist groß genug, du kannst uns jederzeit besuchen.«
    Skeptisch runzelte Doro die Stirn und musterte Susan durch ihre Brillengläser von oben bis unten.
    »Woher hast du eigentlich das Geld, um ein Cottage zu kaufen?«
    Susan, die die Frage erwartet hatte, antwortete mit einer lapidaren Handbewegung: »Ach, das Haus war sehr günstig, und ich hatte etwas gespart.«
    »Von deiner Arbeit bei Charlwood and Sons?« Doro zuckte mit den Schultern. »Nun ja, das geht mich nichts an. Ich dachte nur, du würdest weiterhin in unserer Gruppe arbeiten. Der Krieg kann nicht ewig dauern, und dann werden wir uns wieder vehement für das Frauenwahlrecht einsetzen. Schau doch mal, Susan« – Doro deutete mit der Hand nach draußen, als ob das, was sie sagte, direkt vor ihrem Fenster stattfand –, »überall sind Frauen. Ohne uns würde die britische Wirtschaft zusammenbrechen. Die Regierung kann unser Recht, zu wählen, nicht länger ignorieren. So gesehen hat dieser Krieg für uns auch etwas Gutes.«
    Susan dachte an die Tausende von Witwen und Waisen, die ihre Männer und Väter nie wiedersehen würden, und konnte Doro nicht zustimmen. Sicher, Busse, Straßenbahnen und Taxis wurden inzwischen vorrangig von Frauen gelenkt, Frauen erlernten den Beruf des Automechanikers, sie schufteten an den Fließbändern in den Fabriken und leisteten Schwerstarbeit, die bisher den Männern vorbehalten war, und waren somit in fast allen Bereichen gleichgestellt. Doch würde dies nicht alles vergessen sein, wenn wieder Frieden herrschte? Würden die Frauen dann nicht wieder zurück an den Herd verbannt werden? Im Moment war das jedoch gleichgültig. Das Wichtigste war, diesen schrecklichen Krieg zu beenden, damit nicht noch mehr Menschen sterben mussten.
     
    Das Haus mit dem fantasielosen Namen
Cliff Cottage
lag auf halber Höhe am Talland Hill. Es hatte zwei Stockwerke – unten war eine kleine, aber gut ausgestattete Küche, ein schmales Bad und ein Wohnzimmer mit einem offenen Kamin, das gleichzeitig als Esszimmer diente. Eine steile Treppe führte in zwei Schlafzimmer hinauf, und es gab noch einen kleinen Raum, den Susan als Gästezimmer einrichten wollte. Vielleicht kam Doro sie ja tatsächlich mal besuchen, wenngleich die Freundin bei ihrer Abreise aus London dies in Frage gestellt hatte.
    »Solange man mich in London braucht, verlasse ich die Stadt nicht«, hatte Doro gesagt und Susan damit zu verstehen gegeben, dass sie deren Umzug nach Cornwall als Flucht ansah.
    Das Cottage war im sechzehnten Jahrhundert erbaut worden und hatte sich seitdem mit seinen dicken, weißgetünchten Mauern kaum verändert. Natürlich waren im Inneren immer wieder Renovierungen durchgeführt worden, so hatte es elektrischen Strom und fließend warmes Wasser, der Charme der einstigen Fischerhütte war jedoch erhalten geblieben. Am besten gefiel Susan der kleine Garten. Er war nicht groß, aber von drei Seiten mit meterhohen Hortensienhecken gesäumt, deren Blüten jetzt im Spätsommer von Dunkelblau bis Violett leuchteten. Vom Garten aus hatte man einen weiten Blick über den kleinen Hafen Polperros bis hinaus auf das Meer. In der Luft lag der Geruch nach Salz, Tang, Fisch und Torf, über den Jimmy jedoch die Nase rümpfte.
    »Es stinkt hier«, waren seine ersten Worte, als sie ihr neues Zuhause erreichten.
    Susan verkniff sich eine Bemerkung. Sie nahm Jimmy seine Worte nicht übel, hatte er doch bisher London nie verlassen und kannte keinen anderen Geruch als den einer Großstadt. Sie hoffte, der Junge würde sich in Polperro schnell einleben und Freunde finden. Eine Schule war ganz in der Nähe, Jimmy musste nur knappe fünfzehn Minuten laufen, und in einer Woche würde das neue Schuljahr beginnen.
    Die Neuankömmlinge wurden von den Einheimischen neugierig beäugt. Natürlich kamen gerade in den Sommermonaten immer wieder Touristen in

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