Das Lied der Luege
vergangen waren, erkannte Susan die Frau sofort – es war Kate Hexton, Pauls Frau, die eigentlich keine Berechtigung hatte, diesen Nachnamen zu tragen. Abwartend blieb Susan stehen, ihr Gesichtsausdruck war wenig freundlich.
»Was wollen Sie?«, fragte sie barsch. »Ich habe keine Zeit, ich muss zur Arbeit.«
Kate sah sie unsicher an. »Es ist wegen Paul …« Ihre Augen verdunkelten sich. »Er ist im Hospital und möchte Sie sehen.«
»Paul? Sie wollen mir nicht sagen, dass er an der Front war?«, fragte Susan ungläubig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Paul zur Armee gegangen war, denn er hatte noch nie großen Patriotismus gezeigt, außer wenn es darum ging, die Wohnungen von vermögenden Engländern auszurauben oder auf der Straße diese um ihre Geldbörse zu erleichtern.
»Er ist verletzt … sehr schwer verletzt … er war in den Dardanellen.« Zu Susans Beklemmung fing Kate mitten auf der Straße an zu weinen. »Er wird sterben … Bitte, er möchte mit Ihnen sprechen …«
Nun war Susan doch erschrocken. Sie würde Ärger bekommen, wenn sie zu spät in die Fabrik kam, trotzdem konnte sie Kate die Bitte nicht abschlagen. Auch wenn sie und Paul nichts mehr verband und sie allen Grund hatte, diesen Mann, der sie um ihr Kind und um ihr Geld betrogen hatte, zu hassen – wenn er tatsächlich im Sterben lag, war es ihre Pflicht, seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Trotz allem waren sie vor dem Gesetz immer noch Mann und Frau.
Während die beiden Frauen auf den Bus warteten, erzählte Kate unter Stocken von Pauls Verwundung.
»Man hat ihn dort unten notdürftig zusammengeflickt. Das Lazarett musste dann aufgegeben werden, da die Feinde immer näher rückten, und die Verwundeten wurden nach Hause gebracht. Pauls Wunden haben sich während der Überfahrt entzündet, die Ärzte sagen, er habe eine Blutvergiftung.« Kate schluchzte laut auf, und Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie in den Bus stiegen. Keiner der anderen Passagiere achtete jedoch auf sie, denn weinende und verzweifelte Frauen waren seit Jahren an der Tagesordnung. »Er wird sterben … Susan … vielleicht heute schon.«
Nun war Susan ernsthaft besorgt. Es schien ihr beinahe unvorstellbar, dass Paul – dieser starke und bullige Mann – dem Tode nahe war.
Nach einer halben Stunde erreichten sie das Hospital. Einst war es eine chirurgische Klinik für die Oberschicht gewesen, jetzt wurden hier verwundete Soldaten behandelt. Nachdem sie die Schwingtür aufgestoßen hatten, drang Susan der üble Geruch nach Blut, Eiter, Schweiß und menschlichen Exkrementen in die Nase. Das Krankenhaus war hoffnungslos überfüllt. Nicht nur in den Zimmern, sondern auch auf den Gängen und in den Waschräumen lagen Verwundete dicht nebeneinander. Viele hatten nicht einmal ein ordentliches Bett, sondern waren auf Feldbetten, andere nur auf Matratzen gelegt worden. Dutzende von Krankenschwestern mit müden und stumpfen Blicken und blutbesudelten Schürzen eilten durch die Reihen, konnten jedoch unmöglich jedem Schreienden helfen. Am schlimmsten waren die Männer, die schwiegen und bewegungslos dalagen. Susan wusste nicht, ob diese überhaupt noch am Leben waren.
Paul lag in einem weitläufigen Saal im ersten Stock. In drei Reihen standen je dreißig Betten, die nicht durch einen Vorhang voneinander getrennt waren. Obwohl die Fensterflügel geöffnet waren, war die Luft zum Schneiden dick, und Susan versuchte, flach zu atmen, da sie einen Würgereiz in der Kehle spürte.
»Es ist der ehemalige Speisesaal«, flüsterte Kate. »Die normalen Krankenzimmer sind längst überfüllt.«
Susan folgte Kate durch die Reihen, bis sie vor einem Bett stehen blieben. Kate hatte nichts über die Verletzungen, die Paul erlitten hatte, erzählt, und Susan erschrak, als sie seinen fast vollständig bandagierten Kopf sah. Der Verband ließ lediglich die Augen, die Nase und den Mund frei, an der Stirn sickerte Blut durch die Mullbinde. Das war es aber nicht allein, was Susan entsetzt aufstöhnen ließ. Ab Pauls Unterleib lag die Bettdecke flach auf dem Laken. Dort, wo eigentlich Pauls Beine hätten sein müssen, war … nichts.
»Eine Granate«, flüsterte Kate, die Susans Blick gefolgt war. »Es grenzt an ein Wunder, dass er nicht sofort gestorben ist.«
Sie kniete sich neben das Bett – Stühle gab es keine –, nahm Pauls Hand, die unverletzt war, und sagte: »Paul, ich bin es, Kate. Ich habe Susan mitgebracht.«
Pauls Augenlider zuckten, und
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