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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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sein Blick irrte suchend zu ihr. Mit der Hand winkte er sie näher an sich heran.
    »Susan …« Seine Stimme schien alle Kraft verloren zu haben. Susan setzte sich auf die Bettkante, darum bemüht, seinen Körper nicht zu berühren, um ihm keine Schmerzen zu bereiten, und beugte sich zu ihm hinab. »Danke, dass du gekommen bist.«
    Es war wohl das erste Mal, dass Paul sich bei ihr für etwas bedankte. Obwohl Susan ihr Ehemann schon lange gleichgültig war, kämpfte nun auch sie mit den Tränen. Es war so furchtbar, was dieser verdammte Krieg den Menschen zufügte.
    »Du wirst wieder gesund«, murmelte Susan, nur um etwas zu sagen, obwohl ein Blick in Pauls fieberglänzende Augen ihr sagte, dass er wahrscheinlich diesen Tag nicht überleben würde.
    Seine spröden Lippen kräuselten sich.
    »Du hast noch nie lügen können, Susan. Ich weiß, dass ich sterben muss. Das ist auch besser so, als den Rest des Lebens als Krüppel zu verbringen.« Er rang mühsam nach Luft. Unruhig fuhr seine Zungenspitze über die rauhen Lippen.
    »Ich schaue, ob ich irgendwo Wasser herbekomme«, sagte Kate und ließ sie allein.
    »Es geht um Jimmy«, fuhr Paul fort. »Der Junge braucht jetzt seine Mutter … er braucht dich.«
    »Was ist mit Kate?«, fragte Susan. »Sie ist mehr Mutter für ihn als ich. Ich habe meinen Jungen seit Jahren nicht mehr gesehen.«
    »Kate wird zu ihrer Familie aufs Land gehen.« Jedes Wort bereitete Paul offensichtlich große Schmerzen, er war jedoch fest entschlossen, zu Ende zu bringen, was er sich vorgenommen hatte. »Ich war dir nie ein guter Ehemann und Jimmy kein guter Vater. Nimm ihn zu dir.«
    Trotz der bedrückenden Atmosphäre und all dem Leid um sie herum, trotz der Erkenntnis, dass sie mit einem Sterbenden sprach, wurde Susan von einer großen Freude erfüllt. Lange hatte sie auf diesen Moment gewartet, hatte alles versucht, ihren Sohn zu bekommen, aber ihr Glück basierte jetzt auf dem Tod eines Menschen, und das schmälerte Susans Freude erheblich.
    »Da ist noch etwas.« Paul versuchte, seinen Kopf zu heben. Unterstützend griff Susan nach seinen Schultern, und er richtete sich ein wenig auf. »Unter dem Kopfkissen … Kate brachte es gestern …«
    Susan griff unter das Kissen und zog eine schmuddelige und abgegriffene Ledertasche hervor. Stöhnend ließ Paul sich wieder zurücksinken. Susan öffnete die Tasche und stieß einen leisen Schrei aus, als sie die gebündelten Geldscheine sah.
    »Es ist nicht mehr viel«, flüsterte Paul. »Das meiste habe ich ausgegeben, für das Haus und so. Es ist aber dein Geld, es steht dir zu. Ich hatte es unter einem Bodenbrett im Schlafzimmer aufbewahrt. Es sind noch genau tausend Pfund.«
    Der Boden begann, unter Susan zu schwanken. Tausend Pfund! Die Geschichte begann, sich zu wiederholen. Einst hatte sie ihre Tochter für tausend Pfund verkauft, um ein neues, ein anderes Leben zu beginnen, und jetzt bekam sie dieselbe Summe zurück und ihren Sohn dazu.
    »Warum tust du das?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Ich hätte wohl nie erfahren, dass du …«
    »Dass ich tot bin?«, vollendete Paul den Satz, und für einen Moment glomm der frühere Spott in seinen Augen auf. »Wenn man dem Tod ins Auge blickt, so wie ich es in der Türkei getan habe, und wenn man weiß, dass man den heutigen Sonnenuntergang nicht mehr sehen wird, dann versucht man, wenigstens etwas aus seinem verkorksten Leben wiedergutzumachen. Nimm das Geld und geh mit Jimmy aus London fort. Irgendwohin aufs Land, wo vom Krieg nichts zu spüren ist.«
    Mechanisch nickte Susan. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Durch das Geld war sie nicht mehr auf die Arbeit in der Uniformfabrik angewiesen. Sie konnte die Stadt verlassen, sie konnte ans Meer ziehen …
    Sie erschrak über den letzten Gedanken und sagte schnell: »Ich möchte nicht, dass du stirbst. Du musst kämpfen, Paul, hörst du? Jimmy braucht seinen Vater.«
    Susan war selbst erstaunt, dass sie ihre Worte ehrlich meinte, aber Paul schüttelte den Kopf.
    »Es ist zu spät.« Er schnappte keuchend nach Luft und biss sich vor Schmerzen auf die Unterlippe, die zu bluten begann. Seine Stimme war kaum zu hören, als er fortfuhr: »Eine Bitte habe ich noch … Lass Kate das Haus, es ist alles, was ich ihr hinterlassen kann. Sie kann es verkaufen und vom Erlös wenigstens die nächsten Jahre leben.«
    Susan nickte, sie bemühte sich nicht mehr, ihre Tränen zu unterdrücken.
    »Ach, Paul … warum hat alles so kommen

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