Das Lied der Luege
diese Gegend, jetzt im Krieg jedoch waren die Besucher ausgeblieben, und Susan war auch keine normale Sommerfrischlerin, sondern sie hatte
Cliff Cottage
gekauft. Um Gerüchten keine Nahrung zu geben, kleidete sich Susan dunkel, wenn sie ins Dorf zum Einkaufen ging, und begegnete den Menschen freundlich und aufgeschlossen.
»Ich bin Witwe«, erklärte sie bereitwillig, wenn sie gefragt wurde. »Mein Mann und der Vater meines Sohnes ist bei der Dardanellenschlacht gefallen.«
Im Vergleich zu ihrem früheren Aufenthalt entsprachen ihre Worte jetzt der Wahrheit. Niemand musste wissen, dass sie schon seit Jahren nicht mehr Pauls Frau war, denn auf dem Papier waren sie immer noch verheiratet gewesen. Da die Bewohner von Polperro in erster Linie einfache Fischer waren, die die Gegend selten verließen, erkannte niemand in ihr die einstige Schauspielerin Peggy Sue und noch weniger eine der führenden Londoner Suffragetten. Natürlich wurde auch in Polperro Zeitung gelesen, die Menschen interessierten sich hier jedoch weitaus mehr für die Belange ihrer Umgebung, für das Wetter und den Tratsch über die cornischen Familien als für das, was im fernen London oder sonst wo auf der Welt vor sich ging.
Für Susan war der Umzug wie eine Reise in die Vergangenheit. Nicht nur, weil sie vor neun Jahren bereits hier gewesen war, sondern weil das beschauliche Leben in Polperro ihr den Eindruck vermittelte, sich in vielen Dingen noch im vergangenen Jahrhundert zu befinden.
Nach ein paar Tagen wurde Susan von Jana Godrevy, der Frau des Dorfmetzgers, zum Tee eingeladen. Das Ehepaar hatte drei Kinder, darunter einen Sohn im selben Alter wie Jimmy. Der Junge aus der Stadt wurde zuerst skeptisch und zurückhaltend beäugt, doch kaum eine halbe Stunde später gingen die beiden Jungen zusammen zum Hafen.
»Wie, du hast noch nie in einem Fischerboot gesessen?«, fragte Lewis Godrevy. »Der alte Jack ist ein Freund von mir, der lässt uns sicher in sein Boot gucken. Vielleicht nimmt er uns auch mal mit raus aufs Meer. Dafür musst du aber früh aufstehen, denn den besten Fang macht man vor Sonnenaufgang …«
Lächelnd sah Susan ihrem Sohn nach.
»Ich glaube, die beiden werden schnell Freunde«, sagte Jana, die Susan angeboten hatte, sie beim Vornamen zu nennen, und schenkte den Tee ein. »Lewis hält es nämlich für unter seiner Würde, mit seinen jüngeren Schwestern zu spielen, er ist lieber mit Jungs in seinem Alter zusammen. Leidet Ihr Sohn sehr unter dem Verlust seines Vaters? Und Sie, Susan, vermissen Ihren Mann sicher auch sehr, nicht wahr? Du meine Güte, so viele junge Frauen sind jetzt Witwen.«
Susan war über diese Fragen nicht pikiert, denn die Menschen hier waren stets offen und direkt.
»Der Tod meines Mannes liegt erst wenige Wochen zurück«, antwortete sie ausweichend. »Daher sind wir aus London fortgegangen. Dort erinnert Jimmy … erinnert uns alles an meinen Mann.«
Die folgende Stunde verging mit angenehmer Plauderei, in der Susan sich interessiert den neuesten Klatsch der Gegend anhörte, jedoch nicht verriet, früher schon einmal hier gewesen zu sein. Es war unvermeidlich, dass Jana Godrevy auch auf Sumerhays und die Callingtons zu sprechen kam. Obwohl niemand sie hören konnte, beugte sich Jana zu Susan vor und flüsterte: »Die ganze Gegend zerriss sich den Mund, als vor zwei Jahren Lady Rosalind wieder auftauchte. Ich weiß noch, wie sie plötzlich von einem Tag auf den anderen verschwand, obwohl ich damals noch ein Kind war. Man sagte, sie wäre mit einem Tagelöhner durchgebrannt und die Callingtons seien deshalb furchtbar wütend. Es war ein unbeschreiblicher Skandal, und die Callingtons brachen danach die meisten Kontakte zu ihren Nachbarn ab. Oder diese zu ihnen, wahrscheinlich wegen des Skandals. Nun, wir alle dachten, Rosalind wäre längst tot, doch jetzt ist sie wieder da, zeigt sich aber nie im Dorf, ebenso wenig wie die Lady. Nee, die sind sich wahrscheinlich zu fein dazu, mal in ein Fischerdorf zu gehen, wobei sie ihren Fisch und ihr Fleisch von uns beziehen. Zweimal die Woche kommt ein Bursche vom Herrenhaus und holt die Bestellung ab.«
Susan rührte langsam in ihrer Tasse, obwohl sie weder Zucker noch Milch hineingetan hatte. Sie verstellte sich schon so lange, so war nichts an ihrer Haltung zu merken, dass sie über die Familienverhältnisse der Besitzer von Sumerhays mehr als gut Bescheid wusste und einige Zeit selbst im Herrenhaus gelebt hatte. Jana Godrevy schien eine herzensgute,
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