Das Lied der Luege
aber auch sehr geschwätzige Frau zu sein, außerdem war der Metzgerladen neben der Bäckerei und dem Lebensmittelgeschäft der Dorfmittelpunkt für alle Einwohner. Susan beschloss, die Bekanntschaft mit Jana zu pflegen, zumal ihr die Frau wirklich sympathisch war.
Als es Zeit war, aufzubrechen, waren Jimmy und Lewis immer noch am Hafen.
»Ach, lassen Sie die Jungs«, sagte Jana lächelnd, als Susan Jimmy holen wollte. »Von mir aus kann Ihr Sohn bei uns zu Abend essen. Ich schicke ihn dann nach Hause, es sind ja nur ein paar Schritte die Straße hinauf.«
Spontan griff Susan nach Janas Hand und drückte sie.
»Ich danke Ihnen, Sie sind sehr freundlich. Es wäre so schön, wenn Jimmy einen Freund finden würde nach allem, was er durchgemacht hat. Das Leben auf dem Land ist für ihn noch sehr ungewohnt.«
Jana zwinkerte ihr vertrauensvoll zu.
»Unser Lewis ist in Ordnung, ebenso die Freunde, mit denen er zusammen ist. Ihr Jimmy wird sich hier bald eingewöhnen.«
Erleichtert kehrte Susan in ihr Cottage zurück. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, nach Cornwall zu ziehen. Wenngleich jede Information über Sumerhays und über die Familie Callington sie aufwühlte und die Gewissheit, Anabell so nah zu sein, ohne mit ihr in Kontakt treten zu können, sie traurig stimmte, spürte sie, dass sie hier einen neuen Anfang machen konnte.
Während Susan ihren Hut absetzte, sah sie in den kleinen ovalen Spiegel in der Diele.
»Einen neuen Anfang …«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. »Wie viele neue Anfänge willst du noch machen, Susan Hexton? Du wirst langsam zu alt, um dein Leben alle paar Jahre von Grund auf zu ändern.«
Zu Jimmys Freude stellte sich heraus, dass Lewis Godrevy in dieselbe Klasse ging wie er, und Jimmy begann, sich auf seine neue Schule zu freuen. Erstaunt und zugleich erfreut, stellte Susan fest, dass Jimmy ein guter Schüler war. Offenbar hatte Paul trotz allem darauf geachtet, dass Jimmy lernte, um eines Tages ein besseres Leben als er führen zu können. Jimmy sprach nie von seinem Vater, und Susan drang nicht in ihn. Nach der Schule war er meistens mit Lewis und seinen Freunden zusammen, und Susan erlaubte ihm, mit ihnen und dem alten Jack zum Fischfang aufs Meer zu fahren. Binnen vier Wochen kehrte die Farbe in Jimmys Wangen zurück, er aß, als würde er den ganzen Tag Schwerstarbeit verrichten, und in den Nächten schlief er ruhig und traumlos. Zwar hatte Jimmy seine Zurückhaltung ihr gegenüber noch nicht völlig aufgegeben, Susan war sich jedoch sicher, auf dem richtigen Weg zu sein.
Als Ende September Jimmy sich eines Abends zu ihr setzte und in seiner kindlichen Unschuld fragte: »Warum haben du und Dad euch eigentlich getrennt?«, sagte Susan ihm die Wahrheit, soweit sie es für vertretbar hielt. Sie erzählte Jimmy, dass Paul im Gefängnis gewesen war.
»Er war kein böser Mensch«, betonte sie. »Wir waren damals nur ganz schrecklich arm, und dein Vater musste für dich und für mich sorgen. Da macht man schon mal dumme Sachen, dein Vater hat es aber sehr bereut.«
Jimmy hörte aufmerksam zu, dann nickte er ernsthaft.
»Er hat mir immer gesagt, dass Stehlen nicht das Richtige ist. Hast du ihn deswegen verlassen?«
»Ja, ich hatte keine andere Wahl.« Susan schluckte, dann fuhr sie fort: »Weißt du, ich war einige Zeit sehr krank und musste aus London fort. Da konnte ich dich nicht mitnehmen, damit du nicht auch noch krank wurdest. Darum ließ ich dich bei deinem Vater.«
»Hattest du Tuberkulose?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Susan überrascht. »Woher kennst du dieses Wort überhaupt?«
Jimmy grinste. »Die Mutter eines Freundes von Lewis ist daran gestorben. Ich weiß zwar nicht, was es ist, aber Lewis sagte, es wäre sehr ansteckend, und man hat die Frau in ein Sano … Sanat …«
»Sanatorium«, half Susan ihm auf die Sprünge, und er nickte.
»Also, man hat sie fortgebracht, und niemand durfte sie besuchen.«
»Ja, so etwas Ähnliches war es bei mir auch.« Susan war über diese glückliche Fügung dankbar, denn niemals würde sie Jimmy die Wahrheit erzählen können. Sollte er jemals erfahren, warum sie ihn damals wirklich im Stich gelassen hatte, würde dies das Ende ihrer langsamen Annäherung bedeuten.
31. Kapitel
D er späte September zeigte sich von seiner schönen Seite, und Susan genoss die sonnigen Stunden in ihrem kleinen Garten. Jimmy war nun den ganzen Tag in der Schule, und die Hausarbeit im Cottage war schnell erledigt.
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