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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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»Ich heiße Anabell und du?«
    Der Tee war heiß und stark, doch von den sicherlich köstlichen Gurkensandwiches und den kleinen, in Fett ausgebackenen Apfelküchlein nahm Susan nur wenig. Sie stand unter großer Anspannung und konnte ihren Blick nicht von Anabell abwenden. Das Mädchen saß aufrecht auf dem Stuhl, hatte sich die Serviette auf den Schoß gelegt und führte ihre Teetasse mit abgespreiztem kleinem Finger zum Mund. In dem spitzenbesetzten grünen Samtkleid mit dem weißen Kragen und weißen, geknöpften Stiefelchen sah sie nicht nur aus wie eine kleine Lady, sondern benahm sich auch so.
    Ach, Anabell, dachte Susan,
meine
kleine Anabell …
    »Träumst du?« Rosalind stupste sie in die Seite. »Ich frage gerade, wie es Doro und den anderen geht. Kämpfen sie noch für das Frauenwahlrecht?«
    Susan räusperte sich und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Rosalind.
    »Derzeit ruhen die Bemühungen der WSPU . Im Krieg wäre es unehrenhaft, etwas gegen die Regierung zu unternehmen. Ich hielt die vielen Gewalttaten und Anschläge ohnehin für wenig sinnvoll. Nein« – Susan schüttelte nachdrücklich den Kopf –, »wenn wir Frauen die gleichen Rechte wie die Männer erhalten wollen, dann nicht dadurch, dass wir Häuser in Brand setzen, sondern durch logische Argumente, die schlussendlich alle Verantwortlichen überzeugen werden.«
    Rosalind nickte zustimmend. »Du weißt, dass ich die Letzte bin, die nicht für die Gleichberechtigung wäre, aber was ich im Gefängnis erleben musste …« Es fiel Rosalind offensichtlich schwer, darüber zu sprechen. »Derzeit können wir ohnehin nichts anderes tun, als zu beten und zu hoffen, dass dieser sinnlose Krieg bald ein Ende findet.«
    »Ich hoffe, er dauert noch lange!« Jimmy sah die beiden Frauen mit flammendem Blick an. »Ich will in den Krieg ziehen und es den Deutschen zeigen. Die haben nämlich meinen Dad ermordet.«
    »Ach, Kind, du weißt ja nicht, was du redest«, sagte Susan automatisch, obwohl sie wusste, wie wenig Jimmy es mochte, als Kind bezeichnet zu werden.
    Jimmy runzelte die Stirn und öffnete den Mund, doch Anabell, die trotz ihres jungen Alters ein feines Gespür für einen aufkommenden Streit besaß, sagte rasch: »Willst du mein neues Puppenhaus sehen? Mama schenkte es mir zum Geburtstag.«
    »Puppenhaus?« Jimmys Gesicht wurde lang. »Eher nicht …«
    »Warum zeigst du Jimmy nicht die Welpen von Bice?«, warf Rosalind schnell ein. »Ich bin sicher, Jimmy mag junge Hunde, nicht wahr?«
    Anabell sprang auf und zog Jimmy an einer Hand vom Stuhl.
    »O ja, die Kleinen sind allerliebst. Komm mit!«
    Jimmys Gesichtsausdruck war alles andere als erfreut, und er folgte dem Mädchen nur widerstrebend. Susan starrte den Kindern nach. Da gingen sie nun – Bruder und Schwester – und hatten keine Ahnung, wie nahe sie sich standen.
    Die folgende Stunde verflog rasch, und Susan beruhigte sich so weit, dass sie sogar genussvoll in ein Apfelküchlein biss. Rosalind erzählte ihr, wie sehr es ihr zuerst schwergefallen war, sich wieder an ein Leben als Landadlige zu gewöhnen.
    »Ich besuche regelmäßig unsere Pächter. Besonders die Frauen haben derzeit ein schweres Los, da sich sehr viele Männer an der Front befinden. Ich versuche zu helfen, wo ich kann, denn ich habe am eigenen Leib erfahren, wie es ist, arm zu sein und nicht zu wissen, woher man einen Penny für das nächste Essen nehmen und womit man die Kinder kleiden soll. Aus Partys und Bällen mache ich mir nichts. Ich bin froh, dass Lavinia auch nur selten ausgeht, und Besuch erhalten wir auch eher wenig. Nur wenn Edward auf Sumerhays weilt, ist es unvermeidlich, Empfänge zu geben. Während des Krieges hält sich das jedoch in Grenzen, denn niemandem ist zum Feiern zumute, wenn da draußen die Männer sterben.«
    Susan stimmte ihr gerade zu, da öffnete sich die Tür, und die Kinder stürmten herein. Offenbar hatte Jimmy den Besuch bei den jungen Hunden genossen, denn seine Wangen waren gerötet, und seine Augen strahlten. Auf den Armen trug er einen Welpen, kaum älter als zwei oder drei Wochen.
    »Mama, darf ich ihn behalten?« Bittend sah er Susan an. »Ach, bitte, bitte! Bice, der Gärtner, meint, in vier oder fünf Wochen kann er von seiner Mutter weg, dann darf ich ihn holen.«
    Einen Hund! Susan verdrehte die Augen. Bisher hatte sie noch nie ein Haustier gehabt, wobei das in London und bei ihrer Arbeit auch schlecht möglich gewesen war. Jetzt jedoch hatte sie ein eigenes Haus und

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