Das Lied der Luege
Susan nichts mehr gehört, und langsam begann sie, sich zu beruhigen. Trotzdem zuckte sie wie unter einem Schlag zusammen, als es an einem regnerischen Nachmittag vehement an ihrer Tür klopfte.
»Rosalind … bei dem Wetter …«, begann Susan, nachdem sie geöffnet hatte, aber Rosalind ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Lavinia … sie hatte einen Unfall …«, stotterte Rosalind mit einem angstvollen Blick.
Eine kalte Hand schien nach Susans Herzen zu fassen.
»Ist sie …?« Sie wagte nicht, es auszusprechen, doch Rosalind schüttelte schnell den Kopf.
»Man hat sie nach Plymouth in ein Hospital gebracht. Wir wissen nicht, wie es ihr geht. Ich bin auf dem Weg dorthin. Ach, Susan, bitte, komm mit.«
»Ich?« Susan zuckte zurück. »Ich weiß nicht …«
Rosalind umklammerte ihre Hand.
»Bitte, ich kann jetzt nicht allein dahin fahren. Meine Mutter … Zenobia … sie kann kaum laufen, aber jemand muss nach Plymouth fahren. Ich habe so Angst, dass Lavinia … dass sie … wenn wir ins Krankenhaus kommen … Ich kann jetzt nicht allein sein.«
Susan zögerte, dann gab sie sich einen Ruck.
»Also gut, warte, ich hole nur schnell Hut und Mantel.« Sie spähte auf die Straße. »Du bist sicher mit der Kutsche hier?«
Rosalind nickte. »Das Automobil steht unten am Hafen, der Talland Hill ist zu schmal, um hier heraufzufahren.« Rosalind bemerkte Susans Erstaunen und fuhr fort: »Im Sommer hat Edward ein Automobil gekauft und einen Chauffeur eingestellt. Ich traue den Dingern zwar nicht, heute bin ich aber froh darüber, denn mit einer Kutsche würden wir bis nach Plymouth ewig brauchen.«
»Ich geb nur schnell den Nachbarn Bescheid, damit sie Jimmy, wenn er aus der Schule kommt, sagen, dass ich wegmusste. Der Junge soll sich keine Sorgen machen, falls ich bis dahin noch nicht wieder zurück bin.«
Das Automobil war schwarz mit chromglänzenden Scheinwerfern und einem stabilen Dach. Rosalind öffnete die Tür und kletterte hinein, Susan folgte ihr, doch dann stieß sie einen leisen Schrei aus. Auf der Rückbank saß Anabell, das Gesicht rot und geschwollen vom Weinen, und sah ihr fragend entgegen.
»Das Kind …« Hilflos blickte Susan zu Rosalind.
»Ich musste sie mitnehmen. Sie war dabei, als die Nachricht kam, dass Lavinia verunglückt ist, und ließ sich nicht davon abhalten, mich zu begleiten.«
Am liebsten wäre Susan sofort wieder in ihr Cottage gerannt, doch Rosalind hatte sie bereits auf den Sitz gezogen. Sie saß zwischen Anabell und Rosalind und konnte die Wärme des Kinderkörpers durch ihren Mantel hindurch spüren.
»Wird Mama sterben?«, schluchzte Anabell und sah die beiden Frauen angstvoll an.
Spontan legte Susan einen Arm um das Mädchen.
»Die Ärzte werden alles tun, damit deine Mama bald wieder gesund ist«, sagte sie überzeugter, als es ihr zumute war, und, mit einem Blick zu Rosalind: »Was ist eigentlich passiert?«
Rosalind zuckte mit den Schultern.
»So genau weiß ich es nicht. Am Spätvormittag ritt Lavinia aus, obwohl es stürmte und regnete. In der Nähe von Trencreek muss ihr Pferd dann gescheut und sie abgeworfen haben. Ein Farmer fand sie zufällig, Lavinia war bewusstlos. Da er Lavinia vom Sehen kannte, schickte er seinen Sohn nach Sumerhays, um uns zu informieren, und einen anderen zu einem Arzt nach Looe. Dieser hat dann die Einweisung ins Hospital veranlasst.«
Anabell schluchzte laut auf, und Susan konnte dem Drang, ihre Tochter fest an sich zu drücken, nicht widerstehen. Offenbar erinnerte sich Anabell nicht mehr an sie, obwohl sie sich vor einigen Jahren mehrmals begegnet waren, oder die Aufregung und die Sorge um Lavinia ließen das Mädchen ihre früheren Treffen vergessen.
Rasant, aber sicher lenkte der Chauffeur das Automobil über die schmalen, gewundenen Straßen. An der Fähre bei Torpoint schien es Susan, als müssten sie ewig warten, bis diese endlich da war und sie auf die andere Seite des Tamars übersetzen konnten. Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihre erste Ausfahrt mit Stephen Polkinghorn, die sie genau zu dieser Stelle hier gebracht hatte. Wieder Stephen … würde der Mann sie für den Rest ihres Lebens begleiten?
Lavinia war aus der Bewusstlosigkeit erwacht, als sie das Hospital erreichten, und der Arzt, mit dem sie kurz sprachen, meinte, sie hätte großes Glück gehabt.
»Sie hat eine Platzwunde am Kopf, die wir nähen mussten, dazu eine starke Gehirnerschütterung, drei Rippen sind gebrochen, ebenso ihr rechter
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