Das Lied der Luege
Stephen hatte sie schließlich Sarah Bernhardt vorgestellt und damit die Weichen für ihr künftiges Leben gestellt. Susan konnte es nicht fassen, dass er wirklich tot sein sollte. Nie wieder würde sie sein unbekümmertes Lachen und seine Stimme, in der stets ein wenig Spott mitklang, hören. Stephen war aber auch der Mann, der ihrem Geheimnis dicht auf der Spur gewesen war. So gesehen war sein Tod ein Glücksfall, denn nun würde niemand es lüften können. Trotzdem empfand Susan eine tiefere Trauer als bei Pauls Tod. Sie und Stephen waren nie ein Liebespaar gewesen, doch in der Zeit, die sie miteinander verbrachten, waren sie Freunde geworden.
Zwei Wochen später ging Susan zu der Beerdigung. Stephens sterbliche Überreste waren nach Cornwall überführt worden, und die halbe Grafschaft schien sich auf dem Friedhof von Polkinghorn Manor eingefunden zu haben. Aus der Ferne sah Susan Veronica, Stephens Witwe. Obwohl ihr Gesicht von einem schwarzen Schleier bedeckt war, war sie sehr schön. An ihrer Hand ging ein kleiner Junge, der offenbar nicht verstand, warum die vielen Menschen gekommen waren. Auch Lady Lavinia, ihr Mann und Rosalind waren anwesend, sie schoben Zenobia in einem Rollstuhl. Susan machte sich nicht bemerkbar, sie wollte mit niemandem sprechen. Sie wartete, bis keiner mehr auf dem Friedhof war, dann erst trat sie vor die noch offene Gruft und legte eine blühende blaue Hortensienblüte, eine der letzten aus ihrem Garten, auf die Steinstufen.
»Leb wohl, Stephen«, sagte sie leise, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich werde dich niemals vergessen.«
Das Jahr 1916 begann, wie das Jahr 1915 geendet hatte: Starke Stürme und heftiger Regen zogen über Cornwall, setzten die Felder unter Wasser und ließen die Flüsse anschwellen, so dass auch in Polperro einige Gassen nicht passierbar waren. Oft konnten Fischer tagelang nicht hinausfahren, und das Hafenbecken musste mit einer schweren Holzbarriere verschlossen werden, damit das Meer nicht die Häuser am Hafen überschwemmte.
Von den Kriegsschauplätzen gab es nichts Neues, die deutsche Armee schien immer noch auf dem Vormarsch zu sein. Die Briten kämpften an allen Fronten – in Frankreich und Belgien ebenso wie in der Türkei oder auf dem Balkan. England verhängte gegenüber Deutschland eine Seeblockade, die sich nicht mehr nur auf kriegswichtige Güter, sondern auch auf Lebensmittel bezog. So kam es zu massiven Einschränkungen in der Lebensmittelversorgung, die auch auf dem Land spürbar wurde. Glücklicherweise waren die Keller der Häuser Polperros randvoll mit gepökelten Pilchards gefüllt, einem kleinen, sardinenartigen Fisch und seit Jahrhunderten das Hauptnahrungsmittel Cornwalls. Pilchards traten zwei oder drei Mal im Jahr in großen Schwärmen zu Abermillionen Fischen auf. Tagelang waren alle Menschen mit nichts anderem beschäftigt, als die Fische zu fangen, sie auszunehmen und sie in Salz einzulegen, damit sie mehrere Monate haltbar wurden. Nichts von den Pilchards wurde verschwendet, denn der Tran wurde zu Lampenöl verarbeitet. Susan mochte diese Fische nicht besonders, doch sie waren billig und nahrhaft. Zwar brauchte sich Susan keine Gedanken ums Geld zu machen, denn das Leben in Cornwall war um ein Vielfaches günstiger als in der Stadt, auch gab es keine Vergnügungen, bei denen Susan hätte Geld ausgeben können, dennoch lebte sie so sparsam wie möglich.
Lavinia Callington war längst aus dem Hospital entlassen worden und wieder auf Sumerhays. An Weihnachten kam auch Edward aus London und blieb bis Mitte Januar. In dieser Zeit sah Susan weder Rosalind noch Anabell. Sie hatte Rosalind gebeten, Lady Lavinia nichts von ihren Besuchen zu erzählen.
»Ich stamme nicht aus ihrer Gesellschaftsschicht«, erklärte sie und wusste, wie vage dies klang. »Deine Schwägerin würde nicht wollen, dass du mit jemandem wie mir verkehrst, zumal ich auch mal Schauspielerin und eine engagierte Suffragette war.«
Rosalind hatte Susan lange fragend angesehen, als jedoch keine weitere Erklärung folgte, hatte sie zustimmend genickt. Susan befürchtete dennoch, dass Lavinia durch Mrs. Windle von ihr erfahren würde. Als der Januar jedoch fortschritt und in den Februar überging und sie nichts aus Sumerhays hörte, wurde sie ruhiger. In unregelmäßigen Abständen besuchte Rosalind sie in ihrem Cottage, manchmal brachte sie Anabell mit. Jimmy verschwand dann immer. Er konnte mit dem Mädchen nichts anfangen, Anabell schien das
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