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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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und eine Lady muss gut reiten und auch jagen können.«
    »Hm …« Grübelnd zog Anabell die Unterlippe zwischen die Zähne. »Ich weiß, warum Vater will, dass ich das mache. Ich bin nämlich nur ein Mädchen, und Vater wollte lieber einen Jungen haben, darum will er, dass ich mich wie ein Junge benehme.«
    »Das ist bestimmt nicht wahr«, versicherte Susan ihr schnell, aber Anabell schüttelte trotzig den Kopf.
    »Ich habe gehört, wie Vater zu Großmutter sagte, es sei schade, dass ich nur ein Mädchen bin. Er würde mich viel mehr lieben, wenn ich ein Junge wäre.«
    Nun konnte Susan ihre Gefühle nicht mehr unterdrücken. Sie nahm Anabell in die Arme und zog sie an ihre Brust. Das Mädchen sträubte sich nicht, sondern schmiegte ihren Kopf an sie.
    »Du bist lieb«, sagte sie leise und ging dabei unwillkürlich zum Du über. »Kommst du uns öfter besuchen? Jimmy ist auch ganz nett, für einen Jungen jedenfalls.«
    Susan schmunzelte. »Wir werden sehen. Du und deine Tante, ihr könnt uns ja auch mal in unserem Cottage besuchen. Es liegt über dem Hafen, und man sieht direkt aufs Meer.«
    Vertrauensvoll schob Anabell ihre Hand in Susans, als sie in den Salon zurückgingen. Als es Zeit wurde, sich zu verabschieden, versprach Rosalind, Susan so bald wie möglich in Polperro zu besuchen.
    »Ich bin so glücklich, dass du jetzt hier lebst«, sagte Rosalind, und Susan spürte, dass sie ihre Worte ehrlich meinte. Sie wusste allerdings, wenn Lavinia davon erfuhr, gäbe es eine Katastrophe. Im Augenblick verdrängte sie lieber den Gedanken daran, denn Susan war sehr glücklich, mit Anabell zusammen gewesen zu sein, und hatte jede Minute dieses Nachmittags genossen.
     
    Die Nachricht, Stephen Polkinghorn wäre bei Ypern in Flandern gefallen, zog Susan im wahrsten Sinne des Wortes die Beine weg. Sie erfuhr es beim Bäcker, wo das natürlich Gesprächsthema Nummer eins war, da die Familie Polkinghorn allseits bekannt, wenngleich nicht unbedingt beliebt war.
    »Die arme Frau!« Eine Kundin rang theatralisch die Hände. »So jung und schon Witwe.«
    »So ergeht es derzeit Tausenden«, entgegnete Mrs. Finch trocken. »Auch wenn ich diesen aufgeblasenen Polkinghorn nicht sonderlich mochte – keiner hat es verdient, auf einem Schlachtfeld fern der Heimat zu verrecken.«
    »Man sagt ja, viele Kinder aus der Gegend hätten Polkinghornsches Blut in den Adern«, flüsterte eine Dame hinter vorgehaltener Hand, jedoch so laut, dass es alle Kunden in der Bäckerei deutlich hören konnten. »Der hat nichts anbrennen lassen …«
    »Man soll über Tote nicht schlecht sprechen.« Laut und streng unterbrach Susan die Frau. »Stephen Polkinghorn war seiner Frau treu, was er in seiner Jugend gemacht hat, sollte vergessen sein.«
    Alle Blicke richteten sich auf Susan. Die Frau, die zuletzt gesprochen hatte, stellte sich vor sie und fragte spöttisch: »Ach, sieh mal an, unser Neuzugang.« Auch nach inzwischen drei Monaten war Susan immer noch die
Neue
in Polperro. »Sie haben wohl selbst einmal die Gunst Polkinghorns genossen? Sagten Sie nicht, Sie wären Witwe? Vielleicht sollte ich mir Ihren Jungen mal genauer ansehen, ob er nicht vielleicht die Nase oder die Augen einer gewissen aristokratischen Familie hat?«
    »Rose, jetzt gehst du zu weit.« Mrs. Finch kam hinter dem Verkaufstresen vor und stellte sich zwischen Susan und die Frau. »Mrs. Hexton hat ihren Mann in diesem schrecklichen Krieg verloren und ist gezwungen, sich und ihren Sohn allein durchzubringen. Sie ist Sir Stephen nie im Leben begegnet, lebt sie doch erst seit kurzer Zeit hier.«
    Susan war über Mrs. Finchs Hilfestellung dankbar. Auf keinen Fall würde sie die Worte der Bäckerin dementieren. Sie hoffte nur, dass niemand beobachtet hatte, als Stephen sie in ihrem Cottage aufsuchte.
    Susan nahm ihre Einkäufe und warf Mrs. Finch einen dankbaren Blick zu, dann verließ sie den Laden. Mühsam, langsam einen Schritt vor den anderen setzend, ging sie durch die schmale Gasse zum Hafen hinunter. Hier erreichte sie gerade noch eine Bank und ließ sich darauf fallen, als ihre Beine unkontrolliert zu zittern begannen. Stephen war tot! Stephen – der Mann, der ihr die Zeit, als sie Anabell erwartete und fast von allen Menschen abgeschnitten gewesen war, versüßt hatte. Stephen – mit ihm war sie zum ersten Mal in einem Automobil gefahren. Stephen – er hatte sie ins Theater nach Plymouth geführt, wo sie sofort von der Atmosphäre fasziniert gewesen war. Und

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