Das Lied der Luege
bestehen.
»Endlich habe ich dich gefunden«, stieß er hervor, wobei sich seine Augen verdunkelten. »Seit wann lebst du hier? Warum hast du mir nicht geschrieben? So viele Jahre …«
Susan ignorierte das Zittern ihrer Beine und entgegnete mit kühler Stimme: »Ich sah keine Veranlassung, dir mitzuteilen, dass ich hier lebe. Mein Sohn und ich sind vor zwei Jahren aus London fortgegangen.«
»Dein Sohn?« Ein kurzes Erschrecken glitt über Daniels Gesicht. »Dann bist du verheiratet?«
»Ich bin Witwe«, antwortete Susan knapp. »Jimmy, mein Sohn, wird bald vierzehn Jahre alt.«
Daniel nickte. »Er ist der Junge, von dem du auf dem Schiff gesprochen hast, nicht wahr? Als du von einer angeblichen Freundin erzähltest. Es freut mich für dich, dass du deinen Sohn wieder bei dir hast.«
Susan machte sich aus seinem Griff frei und wandte sich ab. Dabei fiel ihr Blick in einen Spiegel, und sie erschrak. Sie sah furchtbar aus! Seit drei Tagen hatte sie ihre Haare nicht mehr gewaschen, ihr Gesicht war ebenso wie ihre Hände mit Erde beschmutzt, und auch ihre Strümpfe waren alles andere als sauber. Na und?, dachte sie, es kann mir gleichgültig sein, wie ich aussehe. Daniel Draycott ist nur vorbeigekommen, um mir einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, da er offenbar als Soldat nach England geschickt wurde. Mehr durfte und wollte sie in Daniels Erscheinen nicht hineininterpretieren. Langsam richtete sie ihren Blick auf ihn.
»Du gehst aufs Festland?«, fragte sie und deutete auf seine Uniform.
Er nickte. »Nach Flandern, unser Schiff läuft heute Abend in Plymouth aus.«
»Warum bist du gekommen?«, fragte sie nun doch direkt.
Daniel seufzte und sah sich um.
»Du hast nicht zufällig etwas zu trinken im Haus?«, fragte er. »Ich meine, etwas Alkoholisches. Normalerweise trinke ich tagsüber nicht, aber bei dem, was ich dir zu sagen habe, könnte ich einen Schluck gebrauchen.«
»Tut mir leid.« Susan zuckte bedauernd mit den Schultern. »Derzeit ist es fast unmöglich, Alkohol zu bekommen, und wenn, dann ist er sehr teuer. Außer dem Bier, das im örtlichen Pub ausgeschenkt wird, gibt es im ganzen Dorf keinen Alkohol.«
Er seufzte erneut, schloss für einen Moment die Augen und setzte sich dann in den Sessel. Susan nahm auf dem Sofa Platz. Sie war gespannt, was Daniel ihr zu sagen hatte, und hoffte, es würde schnell gehen. Je schneller er wieder verschwand, desto besser. Zugleich wusste sie, dass diese unerwartete Begegnung sie für die kommenden Wochen aus der Bahn werfen würde.
»Warum hast du mir nie auf meine Briefe geantwortet?«
»Was?« Seine Frage traf Susan völlig unerwartet. »Das müsste ich dich fragen«, sagte sie mit einem bitteren Unterton. »Ich habe dir das Geld, welches du mir geliehen hast, zurückgeschickt und dir zwei Briefe geschrieben, in denen auch meine Londoner Adresse stand. Allerdings erhielt ich von dir nie eine Antwort.«
»Das ist nicht wahr!« Daniels Augenbrauen ruckten nach oben. »Ich habe dir geschrieben, ein ganzes Jahr lang, beinahe jeden Monat. Das war, bevor der Krieg ausbrach und die Post noch ungehindert durchkam. Irgendwann fand ich mich schließlich damit ab, dass du nichts mehr von mir wissen willst, da nie eine Antwort kam …«
Ein Verdacht regte sich in Susan.
»Ist das wirklich wahr?«, flüsterte sie. »Oder sagst du das jetzt nur so?« Der liebevolle, zugleich traurige Blick aus Daniels Augen beantwortete ihre Frage, und sie schlug eine Hand vor den Mund. »Doro …«
»Dorothea Hawkins?«, fragte er.
Susan nickte. »Du kennst sie?«
»Unsere Einheit wurde nach England geschickt, wir kamen vor ein paar Tagen in Liverpool an. Da ich etwas Zeit hatte, bevor wir uns nach Frankreich einschiffen, suchte ich die Adresse in London auf, die letzte, die ich von dir hatte. Dort lebt eine Miss Hawkins, die alles andere als erfreut war, als ich sie nach dir fragte.« Er lächelte verschmitzt. »Es kostete mich all meine Überredungskunst und jede Menge Charme, damit sie mir verriet, dass du jetzt in Cornwall lebst. Allerdings nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass du mit dem Thema Männer abgeschlossen hättest und sicher nicht erfreut wärst, mich wiederzusehen.«
Während Daniels Worten wurde Susan so einiges klar. Doro hatte seine Briefe abgefangen. Ach, Doro, warum hast du das getan?, dachte Susan, sie empfand jedoch keinen Zorn auf die Freundin, sondern konnte sie sogar ein wenig verstehen. Doros ganzes Denken und Handeln war seit Jahren auf den Kampf
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