Das Lied der Luege
Angriffe wirksam war, so konnte dieses Sicherungssystem nun durch die US -Marine wirkungsvoll verstärkt werden.
Erst jetzt erfuhr Susan von einem schrecklichen Ereignis, das beinahe ein ganzes Jahr zuvor stattgefunden hatte: Der inzwischen einundsiebzigjährigen Schauspielerin Sarah Bernhardt war das rechte Bein direkt unterhalb der Hüfte amputiert worden. Vor Jahren hatte Sarah sich bei einem Sprung auf der Bühne am Knie verletzt, was nie richtig ausgeheilt war und immer wieder zu schmerzhaften Entzündungen führte. Durch den Krieg bedingt, hatten auch die meisten Theater in Frankreich geschlossen, und die Nachrichten vom Festland, die nicht das Kriegsgeschehen betrafen, erreichten England nur schleppend und unvollständig. Susan schrieb sofort einen langen Brief an Sarah und fragte nach ihrem Befinden. Zu ihrer großen Freude erhielt sie drei Monate später eine Antwort, in der Sarah Bernhardt meinte, sie wäre nun ohne das »lästige und ständig schmerzende Bein« sehr viel besser dran, und sie war auch schon wieder aufgetreten. Sie verzichtete auf eine Prothese, sondern hüpfte auf einem Bein auf die Bühne und hielt ihre kraftvollen Monologe, für die Sarah weltberühmt war, in einem Sessel sitzend.
Wieder mal bewunderte Susan diese wahre Diva des Theaters. Jede andere Frau, vor allem in ihrem Alter, hätte sich verzweifelt zurückgezogen, Sarah Bernhardt jedoch tat genau das Gegenteil. Als wollte sie jedem beweisen, dass sie auch mit nur einem Bein die größte Schauspielerin der Welt war, reiste sie – soweit es der Krieg zuließ – durch Europa und gastierte sogar in den Feldlagern an der Front vor begeisterten Soldaten. Susan fragte sich, woher Sarah diese Kraft und Energie nahm, und hoffte, mit ebensolcher Stärke ihr künftiges Leben zu bewältigen.
Der Mai 1917 war ein wunderschöner, warmer und sonniger Monat. Überall blühten die Rhododendren in verschwenderischer Pracht, und die Sonne machte jeden Aufenthalt im Freien zu einem wahren Vergnügen. In den letzten Jahren hatte sich Susan mit der Gartenarbeit beschäftigt und zog jetzt in ihrem kleinen Garten neben Blumen auch Gemüse und Früchte. In dem milden, fast schon mediterranen cornischen Klima wuchsen alle Sorten von Beeren, köstlich süße Äpfel und Birnen, Mirabellen und Pflaumen, und täglich konnte Susan frischen Salat, Karotten und Radieschen ernten. Sie war gerade dabei, ein Beet umzugraben, in dem sie versuchen wollte, Kartoffeln anzubauen, als es an der Vordertür klopfte. Susan, die in der lockeren Erde gekniet hatte, erhob sich und wischte sich die erdigen Hände notdürftig an der Schürze ab. Sie wunderte sich, wer anklopfte, denn die Nachbarn kamen normalerweise einfach in den Garten. Bevor sie ins Haus ging, fuhr sie sich mit einer Hand über die schweißnasse Stirn und hinterließ dabei drei breite Schmutzstreifen auf der Haut. Dann ging sie zur Tür und öffnete.
Vor ihr stand Daniel Draycott.
33. Kapitel
D u bist bei der Armee?« Das war das Erste, was Susan einfiel, denn Daniel trug die olivfarbene Uniform der US -Soldaten, die flache Mütze hielt er in der Hand.
»Darf ich hereinkommen?« Daniels Augen flackerten nervös, und er sah sie bittend an. »Ich hoffe, ich störe dich nicht.«
Susan besann sich auf ihre Gastfreundschaft, bat Daniel in das kleine Wohnzimmer und fragte, ob er einen Tee haben wolle. Daniel verneinte und blieb abwartend an der Tür stehen.
»Wie geht es dir?«, fragte er nach einer für Susan beinahe unendlich erscheinenden Zeit, in der sie selbst krampfhaft nach Worten suchte.
»Gut, danke, und dir?« Susan wusste, wie ablehnend ihre Miene und ihre Körperhaltung wirken mussten, sie konnte sich jedoch nicht anders verhalten.
Warum bist du gekommen?, dachte sie und schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte geglaubt, ihre Gefühle für ihn längst überwunden zu haben. Als er jetzt jedoch vor ihr stand, begann ihr Herz, wie das eines Schulmädchens zu klopfen, und sie schämte sich, dass ihr Kleid und ihr Gesicht schmutzig waren. Daniel hatte sich kaum verändert. Hier und da war in seinem Gesicht eine Falte hinzugekommen, doch in seinen dunkelblonden Haaren zeigte sich noch kein Grau, und sein Körper war ebenso schlank und muskulös, wie Susan ihn in Erinnerung hatte.
Mit einem Schritt war Daniel bei ihr. Nach einem kurzen Zögern legte er eine Hand auf ihre Schultern. Susan zuckte unter seiner Berührung zusammen, und ihre Knie schienen plötzlich aus Pudding zu
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