Das Lied der Luege
jedoch nicht zu stören. Susan war für diese Stunden sehr dankbar, ermöglichten sie ihr doch, ein bisschen am Leben ihrer Tochter Anteil zu nehmen.
In Polperro hatte sie sich einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, und mit Doro verband sie ein regelmäßiger Briefwechsel. Von ihr erfuhr Susan, dass Esperanza ein Mädchen zur Welt gebracht hatte und Theo der stolzeste Vater der Welt war. Zwischen den Zeilen von Doros Brief las Susan tiefe Bitterkeit heraus. Sie fragte sich, wie lange Doro noch einer verlorenen Liebe nachtrauern wollte. Irgendwann musste sie doch einsehen, dass ihre Gefühle für Theo nie erwidert worden wären, selbst wenn Esperanza nicht in sein Leben getreten wäre. Sie dachte schließlich auch nicht mehr an Daniel Draycott. Nun ja, jedenfalls nicht oft. Von Männern hatte Susan die Nase voll, sie hatten ihr bisher kein Glück gebracht. Sie lebte für ihren Sohn, mit dem sie inzwischen ein herzliches Verhältnis verband, und sobald der Krieg vorbei wäre, würde sie sich Gedanken machen, wie sie künftig ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Von den Kriegsschauplätzen der Welt kamen keine guten Nachrichten, es schien ein einziges Auf und Ab der Kampfhandlungen zu sein, denen immer mehr Menschen zum Opfer fielen. Längst waren es nicht mehr nur Soldaten, sondern auch immer mehr Zivilisten ließen ihr Leben, die meisten durch Hunger und Krankheiten. Susan war nicht feige, dennoch froh, in Cornwall in Sicherheit zu sein, wenngleich natürlich auch hier der Krieg das vorrangige Gesprächsthema war und es in Polperro kaum noch eine Familie gab, die nicht einen Vater, Ehemann oder Sohn unter den Opfern zu beklagen hatte.
Als im Mai 1915 der britische Passagierdampfer
Lusitania
von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt wurde, fühlte sich Susan unweigerlich an das Unglück der
Titanic
erinnert. Während sie den Zeitungsbericht las, zitterte sie am ganzen Körper, und Tränen liefen über ihr Gesicht. Bei dieser Katastrophe waren fast ebenso viele Menschen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, ums Leben gekommen wie vor vier Jahren bei dem Untergang der
Titanic
. Unter den Opfern waren auch 128 amerikanische Staatsangehörige, daher hoffte man, die bisher neutralen Vereinigten Staaten würden in das Kriegsgeschehen eintreten.
»Wenn die USA Deutschland den Krieg erklären, ist es mit dem Kaiser bald vorbei!« So lautete die allgemeine Meinung.
»Ja, die Amis haben frische, unverbrauchte Männer und keine Probleme mit dem Versorgungsnachschub«, bemerkte Mr. Finch, der Bäcker, der aufgrund eines angeborenen Hüftschadens kriegsuntauglich war.
Trotz allem verlebte Susan ein ruhiges und glückliches Jahr. Niemand sprach mehr davon, dass der Krieg bald vorbei wäre, die Menschen stellten sich vielmehr auf eine lange Zeit der Kämpfe ein und versuchten, das Beste daraus zu machen. Ein Mal im Monat fand ein Tanzabend in der Village Hall statt, zu dem Susan gerne ging. An männlichen Tanzpartnern mangelte es selbstverständlich, denn es kamen fast nur alte Männer, die kaum noch gehen, geschweige denn tanzen konnten, oder Verwundete, die auf Heimaturlaub waren. Jimmy, der in den letzten Monaten in die Höhe geschossen und nun ebenso groß wie Susan war, tapste zwar etwas unbeholfen über die Tanzfläche, erfüllte seiner Mutter jedoch den Wunsch, wenigstens einmal den Ragtime mit ihr zu tanzen, und konnte sich dann vor Angeboten anderer Frauen kaum noch retten. Nach dem ersten Mal verließ Jimmy mit hochrotem Kopf den Saal, mit der Zeit zeigte er eine gewisse Begabung für das Tanzen.
Ende Mai 1916 lieferten sich die britische und die deutsche Flotte die größte Seeschlacht des Krieges bei Skagerrak vor der Küste Jütlands. Die Schlacht tobte einen Nachmittag und die ganze folgende Nacht hindurch, ohne dass eine Entscheidung fiel. Obwohl die Engländer doppelt so hohe Verluste erlitten wie die Deutschen, behielten sie in der Nordsee strategisch die Oberhand. Die deutsche Flotte zog sich nach Kiel zurück und unternahm keinen Versuch, die Ostsee zu verlassen. Erneut gab es eine Pattsituation. Die Lage änderte sich erst, als im April 1917 die USA endlich ihre Neutralität aufgaben und Deutschland den Krieg erklärten. Durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten konnten die Alliierten erleichtert aufatmen. Zuerst machte sich dies auf den Meeren bemerkbar. Hatten die Engländer bereits vorher bewiesen, dass der Schutz von Schiffstransporten durch Kriegsschiffe gegen die deutschen
Weitere Kostenlose Bücher