Das Lied der Luege
Paul.
Drei Tage vor Weihnachten stand Daniel Draycott vor der Tür des Cottage. Susan und er sahen sich minutenlang wortlos an, dann umarmten sie sich. Susan bemerkte, wie mager er geworden war, und war überglücklich, dass Daniel ohne eine Verletzung zurückgekommen war.
»Wenn du nichts dagegen hast, werde ich die nächste Zeit hier in Cornwall bleiben«, sagte Daniel, nachdem sie sich ausgiebig geliebt hatten. »Meinem Vater habe ich bereits gekabelt, er ist damit einverstanden. Vielleicht versuche ich auch, in England eine Anstellung als Anwalt zu bekommen, wenn du und Jimmy eure Heimat nicht verlassen möchtet.«
Susan setzte sich ruckartig auf.
»Soll das …« Sie wagte kaum, es auszusprechen. »Willst du damit sagen, dass du …«
»Verzeih, es war nicht gerade romantisch.« Daniel grinste verlegen. »Susan Hexton, ich frage dich jetzt ganz offiziell: Willst du meine Frau werden? Selbstverständlich werde ich Jimmy als meinen Sohn adoptieren, das heißt, wenn ihr beide das wollt.«
Susan hatte schon das Wort »Ja« auf den Lippen, als sie dennoch verstummte. Nichts in der Welt hätte sie lieber getan, als Daniel zu heiraten. Schon einmal hatte er sie darum gebeten, damals war sie aber noch mit Paul verheiratet gewesen. Jetzt war sie frei und ungebunden, konnte mit Daniel in die Staaten gehen und dort ein neues Leben beginnen. Ein Leben fernab von Sumerhays und von Anabell …
»Was ist, mein Liebling?« Daniel bemerkte den Sturm der Gefühle, der in Susan tobte. »Ich weiß, wir haben uns lange nicht gesehen, eigentlich kennen wir uns kaum, aber schon damals auf der Titanic spürte ich, dass du die Frau meines Lebens bist.«
»Du hast recht, du kennst mich nicht.« Leise sprach Susan diese Worte, Daniel unterbrach sie jedoch.
»Das, was ich von dir kenne, genügt mir.« Er sah sie ernst an und nahm ihre Hände. »Susan, ich weiß inzwischen, dass in deinem Leben einmal etwas geschehen ist, das dich dazu zwang, deinen Sohn im Stich zu lassen. Du warst eine bekannte Schauspielerin, dann eine führende Suffragette, und jetzt sorgst du seit Jahren allein für deinen Sohn. Du hast zugegebenermaßen ein sehr bewegtes Leben, du hast dich aber immer für das, was dir wichtig war, engagiert, und dafür bewundere und liebe ich dich.«
»Das ist nicht alles.« Susan wickelte die Bettdecke um sich und stand auf. Sie wusste, der Moment der Wahrheit war gekommen. Obwohl sie Daniel sehr liebte und die Vorstellung einer erneuten Trennung unerträglich für sie war, konnte sie nicht seine Frau werden, ohne ihm von ihrer großen Schuld zu erzählen. Das Geheimnis würde sie den Rest ihres Lebens begleiten und immer wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf schweben. Daniel hatte verdient, dass sie mit offenen Karten spielte, auch wenn er – wenn sie es ihm nicht sagte – wohl niemals erfahren würde, was sie einst getan hatte. Besonders nicht, wenn sie und Jimmy England verließen, um in Boston zu leben. Susan wollte aber eine neue Ehe nicht mit einer Lüge anfangen, wollte nicht riskieren, dass ihr Geheimnis eines Tages durch einen dummen Zufall ans Licht kommen und Daniel sie dann hassen würde. Besser, er erfuhr es jetzt. Jetzt – wenn ihre Gefühle noch nicht wieder so tief und innig waren und eine Trennung noch erträglich sein würde.
»Daniel, es gibt etwas, was ich dir sagen muss«, begann sie langsam. »Danach wirst du mich wahrscheinlich nicht mehr heiraten wollen, aber ich muss es dir erzählen. Ich kann kein Verständnis erwarten, dennoch bitte ich dich, mich anzuhören.«
»Hast du etwa jemanden umgebracht?«, fragte Daniel. Es sollte scherzhaft klingen, Susan sah jedoch das Erschrecken und eine bange Ungewissheit in seinem Blick.
»Nein, natürlich nicht«, versicherte sie schnell. »Dennoch habe ich etwas getan, was ungesetzlich war. Vom Gesetz abgesehen, ist es aber auch moralisch verwerflich. Damals erschien es mir jedoch der einzig richtige Weg.«
»Erzähle«, forderte Daniel sie auf.
Susan holte tief Luft, wandte den Kopf zur Seite, denn sie konnte Daniel nicht in die Augen sehen, und begann.
Sie erzählte von ihrer Kindheit und Jugend in einem der ärmsten Viertel Londons und von der harten und schmutzigen Arbeit in den Fischhallen von Billingsgate. Sie erzählte von Paul, dass sie einst meinte, diesen Mann zu lieben, und von seinen Diebestouren, durch die sie endlich zwar etwas besser leben konnte, doch auch immer Angst gehabt hatte. Als Susan zu Pauls Inhaftierung und zu
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