Das Lied der Luege
erleichtern, was Mrs. Windle dazu veranlasst hatte, auszusagen, wer Anabells Mutter war. Susan vermutete, es war vielmehr das von Daniel versprochene Geld, denn die Hausarbeit fiel Mrs. Windle immer schwerer, und die Aussicht, sich bald auf das Altenteil zurückziehen zu können, stand über ihrer Loyalität gegenüber den Callingtons.
Jeder Mensch ist käuflich, schoss es Susan durch den Kopf. Sie machte aber niemandem einen Vorwurf, denn sie selbst war es ja auch gewesen. Hoffentlich war es nicht zu spät, um diesen Fehler wiedergutzumachen.
Der Richter bat Susan, genau zu schildern, wie es zu der Begegnung zwischen ihr und Lady Lavinia und zu dem Angebot, ihr das Kind zu überlassen, gekommen war.
»Es war im Hyde Park, Hohes Gericht. Lady Lavinia rutschte am Uferrand der Serpentine unglücklich aus und stürzte ins Wasser. Ich war zufällig in der Nähe und half.«
Susan erwähnte nichts davon, dass Lavinia versucht hatte, sich in der Themse zu ertränken. Das war für das Verfahren unwesentlich und würde nur ein schlechtes Licht auf Lavinia werfen. Dann schilderte sie, wie sie in das Haus der Callingtons eingeladen und Lavinia ihre Schwangerschaft entdeckt hatte.
»Verstehe ich Sie richtig, Mrs. Draycott«, fragte der Richter nach. »Es war der Vorschlag der Viscountess of Tredary, Ihnen tausend Pfund zu bezahlen, wenn Sie ihr Ihr Kind überlassen?«
Susan nickte und schaute zu Lavinia, die immer noch völlig unbeweglich auf ihrem Stuhl saß. Ihre Augen blickten stumpf, es schien, als wäre jedes Feuer darin erloschen.
»Ich weiß, dass ich mich damals auf einen überaus verwerflichen Handel einließ«, fuhr Susan fort. »In meiner damaligen Lage erschien es mir jedoch die einzige Möglichkeit, außer betteln zu gehen oder mich zu prostituieren, damit mein Sohn und ich nicht hungern müssen.«
Daniel hatte ihr erklärt, dass er den Richter bereits im Vorfeld über Susans damalige Lebensumstände aufgeklärt hatte.
»Der Richter, der unsere Anhörung leiten wird, weiß, wie es ist, arm zu sein«, hatte Daniel gesagt. »Sein Vater war Straßenkehrer, und er hat sich von klein auf das Geld für seine Schulausbildung und später für sein Jurastudium hart verdienen müssen.«
»Wann dachten Sie zum ersten Mal darüber nach, das Kind zu behalten?« Der Richter sah Susan fragend an.
»Sofort nach seiner Geburt.« Susans Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Als ich Anabells ersten Schrei hörte, wusste ich, dass ich mein Kind … mein eigen Fleisch und Blut nicht fremden Menschen überlassen kann. Doch es war bereits zu spät.«
»Das stimmt.« Zum ersten Mal, seit Susan den Saal betreten hatte, ergriff Mrs. Windle das Wort. »Miss Hexton … ähm … ich meine, Mrs. Draycott wollte ihr Kind sehen, doch Mylady brachte es sofort weg.«
»Das werden Sie bereuen!« Scharf und kalt wie Eis schnitt Sir Edwards Stimme durch den Raum, und ein Blick voller Hass traf die Haushälterin. »Wenn Sie auch nur einen Fuß in unser Haus setzen, hetze ich die Hunde auf Sie, und auf Ihren letzten Lohn können Sie lange warten.«
Mrs. Windle schluckte mehrmals, und Susan befürchtete, sie würde erneut in Tränen ausbrechen. Leise und stockend berichtete die Haushälterin von den Tagen, in denen Susan immer wieder nach ihrer Tochter gefragt, Lady Lavinia jedoch jeden Kontakt verboten hatte.
Der Richter hörte aufmerksam zu, keine Regung im Gesicht verriet seine Gedanken. Als Nächstes wurde Lady Lavinia befragt. Zu Susans Überraschung machte sie keinen Versuch, zu leugnen. Sie sprach so leise, dass der Richter sie mehrmals auffordern musste, lauter zu sprechen, und schilderte ihre Verzweiflung, als sie erfuhr, niemals ein Kind empfangen und austragen zu können.
»Alles, was ich wollte, war, ein Kind zu haben, Hohes Gericht.« Die Verzweiflung in Lavinias Augen war nicht gespielt. »Etwas, was ich liebhaben und umsorgen kann, denn mein Mann ist monatelang nicht zu Hause, und auf Sumerhays ist es oft sehr einsam.«
»Sie hätten offiziell ein Kind adoptieren können«, wandte der Richter ein.
»Auf gar keinen Fall!« Sir Edward ergriff das Wort. »Das Blut der Callingtons darf keinesfalls mit dem Blut einer niedrigen Klasse vermischt werden. Unser Familienstammbaum reicht viele hundert Jahre zurück.«
Verstehen Sie, was ich meine?, stand in Lavinias Augen, und der Richter nickte kaum merklich.
»Nun, dann wird es ja in Ihrem Interesse sein, Sir, dass besagtes Kind … Anabell Callington …
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