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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Türen stattfand. In den letzten zwei Wochen war Daniel durch die ganze Stadt gefahren, hatte mit verschiedenen Anwälten und Richtern gesprochen und erreicht, dass Lord und Lady Callington nach London vorgeladen worden waren. Susan wagte nicht, sich vorzustellen, wie Sir Edward reagiert hatte, als er die Wahrheit über Anabells Geburt erfuhr. Für einen Moment tat Lavinia ihr leid, sie würde es ab jetzt in ihrer Ehe noch schwerer haben, vielleicht sogar von ihrem Mann verlassen werden, doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Susan hatte sich entschlossen, für ihr Recht als leibliche Mutter von Anabell zu kämpfen – jetzt gab es kein Zurück mehr.
    Bevor es jedoch zu einer offiziellen Gerichtsverhandlung kam, hatte ein Richter eine Anhörung der Parteien vorgeschlagen. Daniel erklärte Susan, was das bedeutete.
    »Bei einer Anhörung wird geprüft, ob die Sachlage für eine ordentliche Gerichtsverhandlung ausreicht oder ob unser Begehren auf so wackligen Füßen steht, dass jedes englische Gericht unsere Klage auf Herausgabe des Kindes abschmettern wird. Selbstverständlich wird hier auch die hohe und einflussreiche Stellung des Viscounts of Tredary berücksichtigt und der damit verbundene Skandal, sollte es zu einer Verhandlung kommen. Der Richter hoffte, die Angelegenheit im kleinen Kreis, wie er es nannte, regeln zu können, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon erfährt.« Daniel zuckte bedauernd mit den Schultern. »Unter den gegebenen Umständen habe ich einer solchen Anhörung zugestimmt.«
    Susan seufzte. »Ich kann mir schon denken, was dabei herauskommen wird. Sicher hat Edward Callington den Richter bestochen, und ich muss dankbar sein, wenn ich keine Verleumdungsklage an den Hals bekomme. Diese hohen Herren halten doch alle zusammen. Eine Krähe hackt einer anderen kein Auge aus, so sagt man doch, nicht wahr?«
    Beruhigend streichelte Daniel Susans Hand. »Sei nicht so pessimistisch, mein Schatz. Nach wie vor glaube ich an die Gerechtigkeit in diesem Land.«
    Jetzt tagten sie im Gerichtsgebäude, und Susan musste draußen warten, bis man sie aufrief. Zuerst war sie auf dem Flur, in dem es penetrant nach Möbelpolitur roch, rastlos auf und ab gegangen, dann hatte sie die Enge nicht mehr ertragen und war auf die Straße gelaufen. Die frische Luft beruhigte sie aber nur wenig. Wie lange dauerte es denn noch? Was hatten die Anwälte und der Richter ohne sie – die Mutter! – zu besprechen? Sie, Susan, war doch die Hauptperson, warum ließ man sie nicht zu Wort kommen?
    »Mrs. Draycott! Sie wurden bereits zweimal aufgerufen.« Susan reagierte erst, als ein Gerichtsdiener ihr auf die Schulter tippte. »Sie sind doch Mrs. Draycott, nicht wahr? Kommen Sie, der Richter wartet.«
    »Ja, sicher.« Susan beeilte sich, dem jungen Mann zu folgen. Trotz ihrer Anspannung musste sie lächeln. Mrs. Draycott … diese Anrede war noch so neu und ungewohnt, dass sie darauf nicht reagiert hatte.
    In dem kleinen Sitzungssaal saßen sich die beiden Parteien an wuchtigen, dunklen Holztischen gegenüber. Auf der rechten Seite Lady Lavinia und Sir Edward Callington, neben ihnen ein ältlicher, streng dreinblickender Anwalt in einer schwarzen Robe und einer grau gepuderten Perücke, auf der anderen Seite Daniel, neben ihm Mrs. Windle, die Haushälterin, die offenbar geweint hatte, denn ihre Augen waren gerötet und verquollen. In der Mitte, auf einem kleinen Podest erhöht, saß der Richter, der Susan erwartungsvoll und nicht unfreundlich entgegenblickte. Aus dem Augenwinkel warf Susan einen Blick nach rechts. Lady Lavinias Gesicht war wie aus Stein gemeißelt, kein Muskel regte sich, und kein Lid zuckte, als sich ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde begegneten. Sir Edward hingegen starrte Susan zornig, beinahe hasserfüllt an. Seine schwabbeligen Wangen waren gerötet, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn, obwohl es im Saal kalt war.
    Der Richter fragte Susan nach ihren persönlichen Daten, dann durfte sie sich neben Daniel setzen. Mrs. Windle wich ihrem Blick aus, obwohl sie gekommen und bereit war, die Wahrheit auszusagen.
    »Ich bin alt, und wer weiß, wie lange ich noch auf dieser Welt sein werde«, hatte Mrs. Windle gesagt, als Susan und Daniel sie gestern vom Zug abholten. »Meiner Herrschaft war ich zwar stets treu ergeben, wenn ich jedoch vor das Antlitz unseres Herrn treten muss, möchte ich das mit reinem Gewissen tun.«
    Es war aber nicht nur der Wunsch, ihr Gewissen zu

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