Das Lied der Luege
müssen wir handeln, bevor man sie fortbringt. Wenn das Mädchen erst mal außer Landes ist, wird es schwer sein, deine Ansprüche durchzusetzen, selbst wenn du vor einem Gericht recht bekommen solltest.«
Susan blickte ihn fragend an. »Was hast du jetzt vor?«
Daniel stand auf und sah sie liebevoll an.
»Ich werde nach London fahren, unsere Kanzlei hat ein paar Kontakte zu guten Anwälten. Wir müssen zuerst mal die Lage sondieren und Meinungen einholen. Ich denke, wir fahren gleich morgen früh.«
»Ich kann Jimmy nicht allein lassen«, gab Susan zu bedenken.
»Stimmt, den Jungen habe ich vergessen.« Daniel runzelte die Stirn und dachte nach. »Vielleicht ist deine Bekannte Jana bereit, Jimmy ein paar Tage zu sich zu nehmen. Er ist doch ohnehin immer mit ihrem Sohn zusammen.«
Susan nahm ihren Mantel, ging zur Tür und warf Daniel ein zuversichtliches Lächeln zu.
»Ich werde sie gleich fragen, und ich denke, Jimmy wird sich riesig freuen, einige Zeit meiner Aufsicht entrinnen zu können.«
34. Kapitel
London, Februar 1919
D er eiskalte Ostwind peitschte den Regen, in den sich immer wieder Graupelkörner mischten, beinahe waagrecht über die Stadt und machte einen Aufenthalt im Freien wenig angenehm. Nur wenige Menschen waren unterwegs, und die, die nicht zu Hause am warmen Ofen sitzen konnten, hatten ihre Mantelkrägen hochgeschlagen, Hüte und Mützen tief ins Gesicht gezogen und eilten mit gesenkten Köpfen durch die Straßen. Susan schien das Wetter jedoch nicht zu bemerken, sie spürte keine Kälte und ignorierte den Regen. Seit einer knappen Stunde lief sie den Gehweg auf und ab, ihr Mantel war längst durchnässt, und das Haar, das unter ihrem Hut hervorschaute, ringelte sich feucht in ihrem Nacken. Susan wusste nicht, wann sie zum letzten Mal derart aufgeregt gewesen war. Es war auch kein Wunder – denn schließlich war heute ihr Hochzeitstag. Seit zwei Stunden war sie Mrs. Draycott. Sie hielt kurz inne und warf einen Blick auf den schlichten Goldreif an ihrem linken Ringfinger. Daniel und sie hatten in aller Stille geheiratet. Lediglich Dorothea Hawkins und Annie Kerr, die einstige Frauenrechtlerin, waren als Trauzeugen dabei gewesen. Danach hatten sie zu viert in einem kleinen Restaurant am Covent Garden gegessen, dann mussten Doro und Annie zu ihrer Arbeit in der Fabrik zurückkehren.
Als Susan vor einer Woche Doro aufgesucht hatte – die Freundin lebte immer noch in der kleinen Wohnung –, war diese zuerst erbleicht und dann tief errötet.
»Du hast jedes Recht, mir Vorwürfe zu machen …«, begann Doro, Susan nahm sie jedoch in die Arme und flüsterte: »Ich verstehe, warum du die Briefe abgefangen hast, doch jetzt ist alles in Ordnung. Ich bin gekommen, um dich zu bitten, meine Trauzeugin zu sein.«
Während der Zugfahrt nach London hatte Daniel vorgeschlagen, in der Stadt zu heiraten. Er führte alle dafür notwendigen Papiere mit sich, auch Susan hatte die wichtigsten Unterlagen dabei.
»Bei unseren Plänen wird es einen guten Eindruck machen, wenn wir bereits verheiratet sind. Ein Richter gibt ein Kind eher in die Hände eines Ehepaars als in die einer alleinerziehenden Mutter.«
»Ach, nur deswegen möchtest du mich heiraten?« Susans Frage hatte zwar keck geklungen, es schwang jedoch auch ein leicht banger Unterton darin.
Ungeachtet der anderen Mitreisenden hatte Daniel sie geküsst und lachend gesagt: »Natürlich nicht, mein Schatz, und das weißt du. Warum sollten wir jedoch länger warten? Wir müssen ohnehin in England heiraten, damit du und Jimmy ohne Probleme in die Staaten einreisen könnt.«
Susan brauchte keine Zeit, um zu überlegen, und stimmte Daniels Vorschlag zu. Sie träumte nicht von einer großen Hochzeit in einem schönen Kleid und mit einer eleganten Kutsche. Außerdem war es ihre zweite Ehe, und in einem weißen Brautkleid vor den Standesbeamten zu treten, wäre selbst der unkonventionellen Susan eigenartig vorgekommen. Daniel versprach, das Fest nachzuholen, sobald sie in Boston wären.
»Meine Eltern wollen schließlich ihre neue Schwiegertochter gebührend empfangen.«
Susan bekam Bauchgrimmen, wenn sie an ihre neue Familie dachte, obwohl Daniel ihr versicherte, seine Eltern würden sie lieben, und sie würde schnell in die Bostoner Gesellschaft aufgenommen werden. Im Augenblick beschäftigte Susan aber nicht so sehr die Frage nach ihrer Zukunft, sondern sie fieberte dem Ergebnis der Anhörung entgegen, die jetzt gerade hinter geschlossenen
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