Das Lied der Luege
ihrer Schwiegermutter Bestand haben. Sie musste nur darauf achten, dass Zenobia nicht auf die Idee kam, ihren Bauch berühren zu wollen, und das Thema der ärztlichen Untersuchung würde sie auch irgendwie aus der Welt schaffen müssen. Lavinia seufzte und setzte sich auf die Bank in der Fensternische. Von ihrem Zimmer aus bot sich ein Blick weit über das Land bis zum Fischerdorf Polperro. Dahinter zog sich das endlose Band des blauen Meeres, das heute ruhig und glatt wie ein Spiegel in der Bucht lag. Alles wirkte so friedlich, als würde es auf der Welt kein Elend und kein Leid geben. Lavinia ballte die Hände zu Fäusten. Sie liebte Cornwall, und sie liebte Sumerhays! Gleichgültig, wie gut oder schlecht ihre Ehe war – allein Sumerhays war es wert, alles zu ertragen, und sie würde wie eine Löwin kämpfen, damit niemand sie von hier vertrieb. Lavinia wusste, würde sie Zenobia von Edwards Drohung, sie zu verstoßen und mittellos zurückzulassen, erzählen, würde ihre Schwiegermutter zuerst zwar entsetzt sein, schließlich aber ihrem Sohn beistehen. Das Geschlecht der Tredarys durfte nicht aussterben und brauchte einen Erben. Wenn Lavinia nicht in der Lage war, die Linie der Familie fortzuführen, dann musste sie eben gegen eine andere, fruchtbare Frau ausgetauscht werden. Zwar sah das englische Scheidungsgesetz nicht vor, dass sich zwei Eheleute trennten, nur weil die Frau keine Kinder gebären konnte, Edward verfügte jedoch über so viel Einfluss und Macht, dass es ihm ein Leichtes wäre, Lavinia des Ehebruches und des mutwilligen Verlassens zu bezichtigen. In seiner Umgebung gab es genügend Männer, die für ein paar Goldstücke allzu gern bereit waren, infame Lügen über sie zu verbreiten. In ihrer Gesellschaftsschicht bedeutete eine Scheidung zwar einen ungeheuerlichen Skandal, letztlich jedoch würde jeder Edward bedauern, weil er mit einer solchen
liederlichen und verwerflichen Frau
verheiratet war. Lavinia hatte sich noch nie für Politik interessiert, das war kein Thema, um das Frauen sich kümmerten, dennoch empfand sie die geltenden Gesetze den Frauen gegenüber als sehr ungerecht. Ein Ehemann konnte so viele Geliebte haben, wie er wollte, und mit denen auch zahlreiche Bastarde zeugen – kein Gericht in England würde einer Scheidungsklage seiner Frau stattgeben. Wenn aber eine Frau sich nur das Geringste zuschulden kommen ließ, dann war eine Scheidung nur noch Formsache. Ebenso ungerecht fand Lavinia, dass Frauen über kein eigenes Einkommen verfügten. Alles, was eine Frau besaß und mit in die Ehe einbrachte, gehörte ab dem Tag der Hochzeit automatisch ihrem Mann. Von nun an war sie auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen ihres Gatten ausgeliefert.
Im vergangenen Frühjahr hatte Lavinia zum ersten Mal von einer Frau mit dem klangvollen Namen Emmeline Pankhurst gehört, wenn auch nur flüsternd und hinter vorgehaltener Hand über sie gesprochen wurde, denn diese Frau war nicht gesellschaftsfähig. Vor drei Jahren hatte Mrs. Pankhurst in Manchester die
Women‘s Social and Political Union
gegründet, die sich für mehr Rechte für die Frauen einsetzte. Die Organisation ging sogar so weit, das allgemeine Wahlrecht für Frauen zu fordern, was selbst Lavinia für völlig unrealistisch und übertrieben hielt. Das Gehirn einer Frau war nicht dafür geschaffen, sich mit Politik zu beschäftigen. Eines Abends hatte Edward sie dabei überrascht, als sie einen Artikel in der Zeitung las, in dem über eine der spektakulären Aktionen von Mrs. Pankhurst berichtet wurde. Edward war vor Zorn rot angelaufen, hatte Lavinia die Zeitung aus der Hand gerissen und sie ins lodernde Kaminfeuer geworfen.
»Niemals wieder möchte ich sehen, dass du dich mit dieser Frau und mit dieser schändlichen Organisation beschäftigst!«, schrie er wütend und starrte Lavinia böse an. »Ich verstehe nicht, warum die Regierung dieses Mannweib und ihre ganze Sippschaft nicht längst zur Räson gebracht hat.«
»Edward, Lieber, die Idee, Frauen mehr Rechte zu gewähren, ist doch nicht grundsätzlich schlecht …« Lavinia versuchte, ihren Mann zu besänftigen, Edward war jedoch so in Rage, dass er ihr brüsk das Wort abschnitt.
»Ich sagte, ich möchte kein Wort darüber hören, hast du verstanden? Diese Weiber sind alle nur sexuell verklemmt und frustriert, eine normale, gesunde Frau käme niemals auf den Gedanken, wählen zu wollen. Politik ist von jeher Männersache. Eine anständige Frau heiratet, bekommt Kinder und
Weitere Kostenlose Bücher