Das Lied der Luege
gehörte, doch sein Herz hing nicht daran.
»Wie leichtsinnig, ein solch kostbares Geschenk per Post zu schicken«, bemerkte Zenobia. Es war selten, dass sie ihren Sohn kritisierte, und sie fuhr auch gleich fort: »Nun, Edward wird es sicher gut versichert haben.«
Wenn nicht, er hat doch genügend Geld, ein neues zu kaufen, falls das Armband auf dem Postweg abhandengekommen wäre, dachte Lavinia und legte das Geschenk achtlos zur Seite. Sie liebte zwar schönen und kostbaren Schmuck, derzeit war sie jedoch zu angespannt, um sich über Edwards Geschenk wirklich zu freuen.
Am zweiten Weihnachtstag kam Lavinia nicht umhin, nach dem Gottesdienst den Pfarrer und seine Frau zum Lunch nach Sumerhays zu bitten. Das hatte eine langjährige Tradition, mit der sie nicht brechen konnte. Wie üblich zwang Lavinia sich zum Essen, obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war. Es war eine andere Sache, Edward und ihrer Schwiegermutter etwas vorzuspielen, als dem Pfarrer, den sie schätzte und mochte. Lavinia war gläubig erzogen worden und befürchtete, der freundliche alte Herr würde ihr den Schwindel an der Nasenspitze ansehen. Doch auch dieser Tag ging problemlos vorbei. Am Abend bat Zenobia sie jedoch um ein Gespräch, dem Lavinia nicht ausweichen konnte.
»Du isst zu wenig, Kind.« Zenobia kam gleich zur Sache. »Ich fand ja schon immer, dass du viel zu dünn bist, aber jetzt musst du für zwei essen. Wir wollen doch nicht, dass das Kind zu klein und zu schwach auf die Welt kommt, nicht wahr?«
Lavinia nickte stumm. Sie war noch nie eine große Esserin gewesen, hatte daher auch eine überschlanke Figur. Zusätzlich schlug ihr die enorme Anspannung, unter der sie seit Wochen stand, auf den Magen und machte jede Mahlzeit zur Qual.
»Ich werde mich bemühen, mehr zu essen, Mutter.«
Zenobia ließ diese Antwort nicht gelten. Sie runzelte die Stirn und fuhr fort: »Ich werde Doktor van Roosen informieren. Er soll nach Sumerhays kommen und dich untersuchen. Deine Appetitlosigkeit erscheint mir seltsam, zudem ist eine ärztliche Untersuchung längst überfällig.«
Lavinia wusste, sie konnte sich nicht länger gegen den Wunsch ihrer Schwiegermutter sträuben. Es war ja auch nicht normal, dass sie sich, seit sie London verlassen hatte, keinem Arzt mehr anvertraut hatte, zumal es sich um ihr erstes Kind handelte. Sie seufzte und sah Zenobia mit einem aufrichtigen Blick an.
»Du hast recht, Mutter, aber ich bitte dich, den Arzt erst nächste Woche zu informieren. Vielleicht kehrt bis dahin mein Appetit wieder zurück. In der Weihnachtszeit möchte Doktor van Roosen sicher mit seiner Familie zusammen sein und bestimmt nur in Notfällen gerufen werden.«
Zenobia war mit diesem Vorschlag einverstanden und ließ Lavinia allein. Unruhig ging sie im Zimmer auf und ab. Ihr musste etwas einfallen, um die Konsultation des Arztes zu verhindern. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, dann jedoch kristallisierte sich einer heraus und nahm konkrete Formen an. Bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte, klingelte sie nach dem Hausmädchen.
Mae Nankerris erschien binnen weniger Minuten.
»Richte deiner Mutter bitte aus, ich möchte sie so schnell wie möglich sprechen«, befahl Lavinia dem Mädchen. »Am besten noch heute Abend.«
Mae knickste. »Selbstverständlich, Mylady«, sagte sie und verschwand.
Die nächsten zwei Stunden kamen Lavinia unendlich lange vor, doch dann meldete Basil Windle, die Hebamme sei da. Lavinia bat Basil, Caja in ihr Zimmer zu führen. Dass Lavinia mit Caja Nankerris sprechen wollte, erregte keinen Verdacht, denn auch Zenobia wusste, welch großes Vertrauen Lavinia in die Hebamme hatte, dennoch schloss sie die Tür ab und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, damit niemand etwas von ihrem Gespräch mitbekommen konnte.
Als Caja nach wenigen Minuten Sumerhays wieder verließ, lehnte sich Lavinia aufatmend im Sessel zurück. Sie hatte gewusst, dass Caja ihrem Plan zustimmen und keine Fragen stellen würde. Jetzt galt es, dass Caja ihren Sohn davon überzeugte, ihr diesen kleinen Gefallen zu tun, aber daran zweifelte Lavinia nicht. Ennis Nankerris verdankte Lavinia schließlich sein Leben – jetzt war die Zeit gekommen, sich zu revanchieren.
Die nächste Woche verging quälend langsam für Lavinia. Sie schützte Unwohlsein und Schwindelanfälle vor, um so wenig wie möglich mit Zenobia zusammenzutreffen. Dies nutzte ihre Schwiegermutter jedoch sogleich, Lavinia erneut ins Gewissen zu reden,
Weitere Kostenlose Bücher