Das Lied der Luege
ist sogar so, dass ich viel zu viel Zeit habe und oft nicht weiß, wie ich diese herumbringen soll. Ich halte mich nämlich auf einer Farm auf, die ziemlich abgelegen liegt, und die Farmer müssen den ganzen Tag arbeiten, so dass sie keine Zeit für einen Plausch haben.« Sie wusste nicht, warum sie einem nahezu Fremden von der Farm und den Nankerris erzählte, ja, warum sie überhaupt mit ihm gefahren war. Er war ihr jedoch nicht mehr unsympathisch wie bei ihrer ersten Begegnung. Im Gegenteil, Stephen Polkinghorn schien ein charmanter Unterhalter zu sein, und was würde sie schon riskieren, wenn sie sich mit ihm traf, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben.
Stephen hatte die Unentschlossenheit in Susans Blick bemerkt und berührte einen Moment lang ihre Hand, eine Berührung, die Susan nicht unangenehm war.
»Dann überlegen Sie es sich«, sagte er. »Ich warte um elf Uhr in East Looe an der Brücke auf Sie und würde mich sehr freuen, wenn Sie mich begleiten. Hoffen wir nur, dass das Wetter ebenso trocken ist wie heute. Ich sollte mir doch ein Automobil mit Dach anschaffen, in denen ist man bei Regen ebenso geschützt wie in einer Kutsche. Leider sind diese Gefährte noch nicht vollständig ausgereift und deswegen auch sehr teuer.«
Während der Rückfahrt sprachen sie nicht, und Susan genoss jeden Augenblick der vorbeirauschenden Landschaft. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es bewerkstelligen sollte, am Sonntag mit Stephen nach Plymouth zu fahren, ohne dass Caja – und damit Lady Lavinia, die es ebenso missbilligen würde – etwas davon erfuhr, war jedoch fest entschlossen, sich diesen Ausflug nicht entgehen zu lassen.
Es war nicht nötig, jemandem von dem geplanten Treffen mit Stephen zu erzählen, denn am Samstagabend sagte Caja zu Susan, als sie das Abendessen brachte: »Morgen hat meine Mutter Geburtstag, sie wird vierundachtzig, ist aber noch rüstig und lebt allein in Fowey, einige Meilen die Küste hinauf in Richtung Westen. Wir werden daher ganz früh losfahren, um sie zu besuchen. Susan, es wird Ihnen doch nicht zu langweilig werden, den ganzen Sonntag so allein, denn wir werden sicher erst nach Sonnenuntergang wieder zurückkehren.«
Susan versicherte, dass es ihr nichts ausmachte, und jubilierte innerlich. Hatte sie bis eben noch gezögert, Stephen Polkinghorns Einladung anzunehmen, so konnte sie jetzt nichts und niemand davon abhalten, sich mit ihm zu treffen. Keiner würde etwas davon erfahren, und sie könnte wenigstens für einen Tag dem langweiligen Alltag entfliehen.
Die Fahrt von Looe nach Plymouth war dank Stephens Art zu plaudern sehr kurzweilig. Er erzählte einige technische Details über das Automobil, die Susan weder verstand, noch interessierten sie diese, aber sie wollte Stephen den Spaß, den er mit seinem Automobil hatte, nicht verderben. Daher nickte sie nur wortlos und genoss die Fahrt. So ein Automobil war vielleicht doch nicht so eine schlechte Erfindung …
Stephen fuhr dieselbe Strecke wie einige Tage zuvor, doch heute hielt er nicht auf dem Hügel an, sondern lenkte das Auto zur Küste hinab. In Torpoint wurden sie auf die dampfbetriebene Fähre gewunken, die gleich darauf ablegte. Für Susan wurde die kurze Überfahrt zum unvergesslichen Erlebnis, und sie stand die ganze Zeit an der Reling. Der Wind war zwar kühl, aber die Sonne glitzerte auf den Wellen des Tamars, der an der Nordküste Cornwalls entsprang und sich wenige Meilen weiter südlich in den Atlantik ergoss.
»Was, wenn wir Bekannte von Ihnen in Plymouth treffen?«, fragte Susan, als die Fähre das Ufer erreicht hatte und sie die ersten Häuserzeilen von Plymouth passierten. »Werden diese nicht Fragen stellen, wenn Sie sich öffentlich mit einer schwangeren Frau zeigen? Oder gar Schlüsse daraus ziehen, die jeglicher Grundlage entbehren?«
Stephen wandte ihr den Kopf zu und lachte laut. Erneut dachte Susan, wie gut er aussah, aber ihr Herz blieb bei seinem Anblick unberührt. Männer wie Stephen Polkinghorn kannte sie zur Genüge. Wenngleich sie sich gerne in seiner Gesellschaft befand – an einer Liebelei hatte sie kein Interesse. Wenn sie erst das Geld in den Händen hielt, waren ihre Ziele andere.
»Meine liebe Susan, da ganz Ostcornwall ohnehin denkt, ich wäre für mindestens die Hälfte aller Kinder unter zehn Jahren in Polperro und in Looe verantwortlich, kommt es auf ein Gerücht mehr oder weniger nicht an. Ich weiß, was man über mich redet –«, er zwinkerte ihr vertrauensvoll
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