Das Lied der Luege
zu und fuhr unbekümmert fort – »und die Leute haben in vielen Dingen recht.«
»Ach, aber an meinen Ruf denken Sie nicht?« Susan runzelte ärgerlich die Stirn, da Stephen nur von sich sprach.
»Ihr Ruf?« Erneut lachte er laut auf und schnalzte mit der Zunge. »Meine liebe Susan, ich hätte Sie niemals für den heutigen Tag eingeladen, wenn ich überzeugt wäre, dass Ihr Ruf tadellos ist.«
»Was?« Susan fuhr hoch und wäre beinahe vom Sitz gefallen, wenn Stephen sie nicht im letzten Moment am Arm gepackt und festgehalten hätte.
»Vorsicht, meine Liebe!«, sagte er und drosselte die Geschwindigkeit, aber Susan war wütend.
»Wie kommen Sie dazu, so etwas zu sagen? Sie sind der unverschämteste Mensch, der mir jemals begegnet ist! Ich möchte sofort aussteigen.«
»Aber, aber, meine Liebe.« Stephen schüttelte in übertriebener Missbilligung den Kopf. »Es ist ein langer Fußweg zurück nach Looe. Susan, wir sollten uns nichts vormachen. Ich finde, wir sind uns sehr ähnlich. Ich nehme Ihnen die Geschichte, Sie wären Witwe, nicht ab. Für eine Witwe sind Sie nämlich viel zu lebenslustig, und in Ihren Augen glimmt der Funke der Abenteuerlust und der Wunsch, das Leben mit allen Sinnen zu genießen. Glauben Sie mir, ich kenne diesen Ausdruck, ich sehe ihn doch täglich, wenn ich in den Spiegel schaue.«
»Vielleicht war meine Ehe nicht glücklich, so dass ich keine große Trauer über den Verlust meines Mannes hege.« Susan wusste, es war ein schwacher Versuch der Verteidigung, denn Stephen Polkinghorn hatte sie in der Tat durchschaut. Er schüttelte den Kopf und lächelte herablassend.
»Ich denke vielmehr, dass Sie … nun ja … in eine prekäre Lage geraten sind, für die ich Sie keinesfalls verurteile. Im Gegenteil, ich mag Frauen, die – was Sitte und Moral angeht – nicht mehr im letzten Jahrhundert leben. Es wird noch Jahre dauern, bis die durch Königin Victoria errichteten Grundfesten zu bröckeln beginnen, obwohl unser jetziger König es mit der Moral selbst nicht genau nimmt. Seine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wüsste sie über die zahlreichen Affären ihres Sohnes Bescheid. Aber zurück zu Ihnen, liebe Susan. Ich empfinde es nicht als Schande, dass es zu Ihrem Kind offenbar keinen Vater gibt. Jedenfalls keinen, der Sie zu einer ehrbaren Frau machen will. Also sind Sie aus der Stadt geflüchtet, um hier Ihr Kind zu bekommen. Was haben Sie vor, wenn es auf der Welt ist? Werden Sie hierbleiben und sich weiterhin als Witwe ausgeben? Und wovon leben Sie? Ich nehme nicht an, dass Sie über ein Vermögen verfügen, denn sonst würden Sie nicht auf der Farm der Nankerris wohnen.«
Susan verschränkte die Arme vor der Brust und starrte zur Seite. Auf der einen Seite war sie über Stephens direkte Art verärgert und auch erschrocken, wie schnell er sie durchschaut hatte, andererseits mochte sie Menschen, die aussprachen, was sie dachten.
»Das geht Sie nichts an«, entgegnete sie kühl.
Er zuckte lapidar mit den Schultern. »Damit haben Sie recht, meine Liebe. Ich frage mich nur, was Lady Tredary bewogen haben kann, Sie unter ihren Schutz zu nehmen. Auch wenn Sie nicht auf Sumerhays wohnen, so weiß doch jeder, dass die Farm zum Besitz gehört und die Nankerris für Lavinia alles tun.«
»Wir sind uns in London begegnet«, gab Susan zu. Es war besser, Stephen einen Teil der Wahrheit zu sagen. Sonst würde er eigene Vermutungen anstellen, die vielleicht in eine für Lavinia und sie fatale Richtung gehen könnten. »Da Lady Lavinia sich ebenfalls in anderen Umständen befindet, hatten wir uns viel zu sagen. Als sie von … meiner Lage … erfuhr, lud sie mich spontan nach Cornwall ein, um hier zur Ruhe zu kommen.«
»Aha.« Diesem einen Wort war anzuhören, dass Stephen ihr kein Wort glaubte. Lady Lavinia und Susan trennten gesellschaftlich Welten, da war es mehr als unwahrscheinlich, dass sich eine Viscountess einer Frau aus der Unterschicht annahm und diese sogar auf ihrem Besitz wohnen ließ. Da die Straßen nun jedoch enger und der Verkehr dichter wurde – hier und da begegneten ihnen sogar andere Automobile –, verstummte das Gespräch, und Stephen konzentrierte sich auf den Verkehr. Stephen fuhr nicht direkt zum Theater, sondern machte einen Abstecher in das alte Hafenviertel. Vor dem Hafenbecken hielt er und deutete auf ein paar unscheinbare Stufen, die vom Kai ins Wasser hinabführten.
»Das sind die Mayflower Steps«, erklärte er. »Hier brachen vor fast
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