Das Lied der Luege
dreihundert Jahren, genau am sechsten September 1620, einhundertzwei wagemutige Männer und Frauen auf, um in dem großen, fernen und völlig unerschlossenen Land jenseits des Meeres ein neues Leben zu beginnen.«
Susan nickte und erwiderte: »Und heute sind die Vereinigten Staaten eines der größten Länder der Erde. Das hat das Land nur den Menschen zu verdanken, die damals den Mut hatten, eine Seereise von sechsundsechzig Tagen zu unternehmen und allen Widrigkeiten des Meeres zu trotzen.«
Stephen sah Susan bewundernd an.
»Sie sind sehr gebildet, Susan«, gab er offen zu. »Ich meine, für eine Frau Ihrer Gesellschaftsschicht.«
»Ach, und welcher Klasse ordnen Sie mich zu?« Susan runzelte ärgerlich die Stirn. Sie begann zu bereuen, Stephens Einladung angenommen zu haben. »Ich wüsste nicht, Ihnen etwas von meinem Leben erzählt zu haben.«
Stephen lachte über ihre offensichtliche Verärgerung und nahm ihren Arm.
»Kommen Sie, wir müssen weiter, sonst fängt das Stück ohne uns an. Ich wollte Sie keinesfalls beleidigen, habe jedoch ausreichend Erfahrung mit Menschen, um beurteilen zu können, dass Sie und Lady Tredary gesellschaftlich nicht auf einer Stufe stehen, aber genau das macht Sie mir sympathisch. Ich genieße es einfach, den Tag mit Ihnen zu verbringen, und Sie sollten es auch tun. Alles andere geht mich nichts an.«
»Stimmt, es geht Sie nichts an.« Susans Gesicht verschloss sich, sie stieg wieder in das Auto und hoffte, der Nachmittag möge rasch vorbeigehen. Danach wollte sie Stephen Polkinghorn niemals wiedersehen, denn er schien die Fähigkeit zu haben, ihr auf den Grund ihrer Seele schauen zu können.
Nach wenigen Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht. Das Theater in der Union Street war ein viktorianisches Gebäude mit einer aufwendig gestalteten Fassade und zahlreichen kleinen Türmchen.
»Es brannte nur acht Monate, nachdem es im Jahre 1898 eröffnet wurde, fast vollständig nieder«, erklärte Stephen, »wurde jedoch so schnell wie möglich wieder aufgebaut, und bereits im folgenden Jahr fanden erneut Aufführungen statt.«
Das Foyer des Theaters war ganz in Rot und Gold gehalten. Plüschsessel luden zum Verweilen ein, und Samtportieren schmückten die deckenhohen Fenster. Der Teppich war so dick und weich, dass Susan meinte, ihre Füße würden darin versinken. Ihren Ärger auf Stephen vergessend, griff sie nach seinem Arm und flüsterte: »Ist das elegant!«
Mit einem Lächeln legte er seine Hand auf die ihre.
»Es ist nur ein kleines Theater. Wir sind eben auf dem Land, wenngleich Plymouth sich gerne als Weltstadt sehen würde.«
Stephen hatte Karten für eine Loge direkt gegenüber der Bühne besorgt, die sie mit niemandem zu teilen brauchten, da in der Nachmittagsvorstellung nur knapp die Hälfte der Plätze besetzt war. Gespannt wartete Susan auf den Beginn. Es war ein einfaches, anspruchsloses Lustspiel. Zwei Brüder buhlten um die Gunst eines jungen Mädchens, das sich nicht zwischen ihnen entscheiden konnte. Es schenkte beiden Männern Beweise seiner Gunst und spielte die Brüder gegeneinander aus. Obwohl es einige recht komische Dialoge gab, bei denen Susan schmunzelte, zog das Spiel sie nicht in den Bann. Die Schauspieler, die die Brüder darstellten, machten ihre Sache zwar gut, das Mädchen jedoch spielte gekünstelt und an vielen Stellen völlig affektiert. Sie schien zu glauben, dass die Zuschauer nur wegen ihr gekommen waren, und warf auch in unpassenden Szenen immer wieder kokette Blicke ins Parkett. Zugegebenermaßen war sie sehr hübsch – mit wallenden, goldblonden Locken und strahlend blauen Augen –, aber ihre Stimme war schwach, an vielen Stellen so leise, dass Susan Mühe hatte, die Worte zu verstehen, und ihre Bewegungen wirkten übertrieben. Obwohl Susan zum ersten Mal in ihrem Leben ein Schauspiel auf der Bühne sah, ertappte sie sich dabei, wie sie bei manchen Monologen des Mädchens dachte, dass diese mit einer anderen Betonung wesentlich eindrucksvoller gewesen wären.
In der Pause besorgte Stephen zwei Gläser warmen Früchtepunsch, die er zu Susan in die Loge brachte.
»Wie finden Sie das Stück?«, fragte er.
Susan zuckte mit den Schultern. »Ich denke, es könnte eine ganz nette Geschichte sein, aber die Hauptdarstellerin finde ich nicht überzeugend.«
Stephen lachte. »Sie haben recht, Janna ist eine ganz miserable Schauspielerin, und heute ist sie besonders schlecht.«
Susan war über seine offenen Worte nicht überrascht.
»Wenn
Weitere Kostenlose Bücher