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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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lief ein Frösteln über Susans Rücken, wenn sie Ennis ansah. Hatte der Junge, der mit seinen hellblauen Augen aussah, als könne er kein Wässerchen trüben, tatsächlich etwas mit dem Treppensturz von Lord Heddingham zu tun? Wenn Lavinia Callington derart kaltblütig war, dem Mann ihrer Schwiegermutter Schaden zuzufügen, dann wagte Susan nicht, sich vorzustellen, was mit ihr geschehen könnte, wenn sie sich nicht an die Regeln hielt. Susan hatte jedoch keinen Beweis, und sie versuchte, die Überlegungen zu verdrängen. Bald wäre ihr Aufenthalt hier vorbei, und sie würde weder Lady Lavinia noch jemanden von den Nankerris jemals wiedersehen.
     
    Ende Januar wechselte, wie in Cornwall im Winter üblich, das Wetter erneut. Sonne und milde Temperaturen gaben einen kleinen Vorgeschmack auf den Frühling, der in Cornwall früh begann. Nach Wochen der Tristesse in dem Cottage beschloss Susan, nach Looe zu gehen. Die frische Luft würde ihr guttun, vielleicht fand sie dort auch eine Einrichtung, in der sie sich Bücher ausleihen konnte. Gleich nach dem Frühstück ging sie los, musste jedoch unterwegs mehrmals stehen bleiben, da sie ihre Kräfte überschätzt hatte. Sie fühlte sich zwar gut, aber die fortschreitende Schwangerschaft ließ sie nicht mehr so leichtfüßig sein, wie Susan es gewohnt war. Sie war jedoch fest entschlossen, Looe aufzusuchen, irgendwie würde sie schon wieder zurückkommen. Leider hatte sie keinen Erfolg, denn weder in West noch in East Looe gab es eine Bücherei, und im Pfarrhaus, in dem sich die Einwohner Looes Bücher ausleihen konnten, fand Susan nur christliche Literatur vor, nach der ihr aber nicht der Sinn stand. Dennoch genoss Susan den Tag, denn das alte Fischerdorf mit seinen engen, kopfsteingepflasterten Gassen und den weißgekalkten, niedrigen Häusern gefiel ihr ebenso wie Polperro. Looe war durch den gleichnamigen Fluss in zwei Teile geteilt – das ältere East Looe war bereits im Mittelalter ein wichtiger Hafenort, dessen Schiffe an jeder Seeschlacht teilnahmen, ebenso spielte Fischfang von jeher eine wichtige Rolle und war noch heute der Haupterwerb der Einwohner. Ähnlich wie Polperro lag Looe eingezwängt zwischen steilen, dichtbewaldeten Abhängen, jedoch dehnte sich der Ort auf der anderen Flussseite aus und West Looe entstand. Eine vor fünfzig Jahren erbaute Brücke verband die beiden Ortsteile. Weiter flussabwärts gab es noch eine ältere Brücke, die jedoch nicht mehr benutzt wurde und allmählich verfiel. Dies alles erfuhr Susan von einer freundlichen und geschwätzigen Verkäuferin in einer Bäckerei, in der sie sich eine cornische Pastete, die Spezialität Cornwalls, kaufte und die köstlich schmeckte. Als Susan beschloss, sich wieder auf den Heimweg zu machen, hörte sie ein Geräusch, das wie ein lautes Knattern klang und in den engen Gassen unangenehm in den Ohren dröhnte. Die Menschen wichen erschrocken zurück, einige bekreuzigten sich und flüchteten in Hauseingänge, und dann kam eine stinkende Rauchwolke direkt auf Susan zu. Im letzten Moment sprang sie zur Seite, dann lachte sie laut. Aus London kannte Susan das Gefährt, das sich in, wie es schien, atemberaubender Geschwindigkeit auf der Straße bewegte, aber die Einwohner von Looe schienen nie zuvor ein Automobil gesehen zu haben. Ängstlich, einige auch panisch, starrten sie auf die pferdelose Kutsche, die nicht nur furchtbar stank, sondern auch diesen Höllenlärm machte. Susan hatte nicht gewusst, dass es hier in Cornwall Menschen gab, die sich ein Automobil leisten konnten, denn diese neuartigen Fahrzeuge waren horrend teuer. In dem Moment, als das Automobil sie passierte, erkannte Susan den Fahrer – es war Stephen Polkinghorn. Susan war nicht überrascht. Es passte zum Ruf des Mannes, ein Auto zu fahren und damit die Leute zu erschrecken. Auch Stephen hatte Susan entdeckt, denn er bremste und hielt nur wenige Meter weiter an. Mit einem Satz sprang er vom Sitz, schob die Brille auf die Stirn und begrüßte Susan mit einem strahlenden Lächeln.
    »Haben Sie Lust auf eine kleine Spazierfahrt?«, fragte er unverblümt und so direkt, als läge ihre letzte Begegnung nicht mehrere Wochen zurück.
    Susan zögerte. »Ich weiß nicht … ich bin noch nie in einem Automobil gefahren …«
    »Dann wird es höchste Zeit!« Stephen nahm ihren Arm und half ihr beim Einsteigen. »Heute ist ein herrlicher Tag für eine Ausfahrt.«
    Susan fühlte sich zwar überrumpelt, war jedoch zu aufgeregt, um zu

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