Das Lied der Luege
Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Susan in der Lage war, anderen Menschen Geschenke zu kaufen. Sie fragte sich, was es wohl für ein Gefühl wäre, wenn sie erst die von Lavinia versprochenen tausend Pfund in den Händen halten würde. Windle, der Hausmeister von Sumerhays, brachte das obligatorische Weihnachtspaket mit ein paar nützlichen Haushaltsgegenständen für Caja, ein weiteres Päckchen Tabak für Denzil, zwei Pullover für Max und für Ennis, und Mae erhielt eine neue Schürze. Caja erzählte, dass früher, noch zu Lebzeiten des alten Viscount Tredary, für die Angestellten und Pächter auf Sumerhays ein Ball stattgefunden hatte.
»Das war immer ein lustiges Vergnügen. Da Mylord Edward jedoch den Winter stets in London verbringt, ist dieser Brauch in Vergessenheit geraten, und in diesem Jahr lässt Myladys Zustand ein solches Fest natürlich nicht zu.«
Susan wunderte sich, wie selbstverständlich Caja über Lavinia Callingtons
Zustand
sprach, obwohl sie genau wusste, wie es um die Dame bestellt war. Sie fragte sich, inwieweit Denzil und die Kinder in den Plan eingeweiht waren, hütete sich jedoch, Caja danach zu fragen.
Am zweiten Weihnachtstag machte Denzil Nankerris den großen Wagen bereit, in dem sie alle Platz fanden, und sie fuhren nach Polperro. Susan freute sich, die Familie bei diesem Ausflug begleiten zu dürfen. Es wurde ein unvergesslicher Tag. Im Hafen trugen Chöre aus der ganzen Umgebung traditionelle cornische Weihnachtslieder vor, Stände boten heiße Kastanien, warmen Würzwein und Früchtepunsch an, und die Leute sangen und tanzten in den schmalen Gassen. Da hier jeder jeden kannte, traf Susan so mancher fragende Blick, den sie jedoch unkommentiert ließ. Wurde Caja auf ihre junge Begleiterin angesprochen, so meinte sie nur kurz: »Die Dame ist Witwe und verbringt den Winter bei uns auf der Farm.«
Nach dem Besuch in Polperro saß Susan noch am Abend mit Caja und Denzil ein oder zwei Stunden plaudernd zusammen, dann zog sie sich in ihr Cottage zurück. So viel wie in den vergangenen zwei Tagen hatte sie mit den Nankerris in den ganzen Wochen zuvor nicht geredet, doch nach den Festtagen und dem Jahreswechsel kehrte die langweilige Routine zurück. Außerdem änderte sich Anfang Januar erneut das Wetter, und es wurde jetzt richtig kalt, stürmisch und regnerisch. Susan hatte längst alle aus London mitgebrachten Bücher gelesen, und auf der Park Farm gab es außer der Bibel keine Lektüre. Als sie Caja nach einer öffentlichen Bücherei fragte, zuckte diese nur mit den Schultern.
»Keine Ahnung, zum Lesen haben wir keine Zeit. Also, in Polperro gibt es sicher keine, vielleicht in East Looe, das Dorf ist doch etwas größer. Bestimmt ist auch in Plymouth eine Bücherei zu finden.«
Susan wagte nicht, zu fragen, ob Max oder Ennis sie nach Plymouth fahren könnten, denn die beiden hatten von früh bis spät zu tun. Einzig am Sonntag war Müßiggang, aber da hätte die Bibliothek ohnehin geschlossen. Somit blieb Susan nichts anderes übrig, als sich die Zeit mit weiteren Spaziergängen zu vertreiben, sofern das Wetter dies gestattete. Die Schwangerschaft bereitete ihr nach wie vor keinerlei Probleme, es war ja auch schon ihre dritte, aber nie zuvor hatte Susan deren Ende so herbeigesehnt wie in diesen Tagen. Sie hoffte, in den kommenden drei Monaten in dieser Einsamkeit nicht verrückt zu werden.
Zu einem zweiten Treffen mit Lavinia Callington kam es nicht, denn von Sumerhays wurde keine Nachricht geschickt. Durch Mae Nankerris erfuhr Susan, dass Lavinias Schwiegermutter Zenobia im Herrenhaus weilte, und später, dass deren Mann einen schweren Unfall hatte, woraufhin Zenobia von einem Tag auf den anderen abreisen musste. Susan machte sich so ihre eigenen Gedanken. Sie ahnte, in welch prekärer Situation Lavinia sich während der Anwesenheit ihrer Schwiegermutter befunden hatte. Da war der Unfall des Ehemannes doch ein seltsamer Zufall. Da Susan wusste, dass Lady Lavinia dem jungen Ennis einst das Leben gerettet hatte – in einer schwachen Minute hatte Caja ihr davon erzählt –, würde Susan sich nicht wundern, wenn der Unfall gar kein Unfall gewesen war.
Unmittelbar, bevor Zenobias Mann in seinem Haus im Norden so schwer gestürzt war, war Ennis für einige Tage plötzlich verschwunden gewesen, und das, obwohl er seine Arbeit bei dem Fischer nie im Stich ließ. Caja hatte auf Susans Nachfrage, wohin Ennis gefahren war, nur mit einem Schulterzucken geantwortet. Seitdem
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