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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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da das Fenster nach hinten in einen kleinen Garten hinausging. Susan bezahlte für eine Woche im Voraus, denn länger hatte sie nicht vor zu bleiben. Instinktiv spürte sie, dass die Wirtin bei aller Freundlichkeit eine sehr neugierige Person war, die sich gerne in die Angelegenheiten ihrer Mieter einmischte. Bevor Mrs. Oxcombe sie allein ließ, wies sie noch darauf hin, dass es um neun Uhr Frühstück und um acht Uhr Abendessen geben würde. Um das Mittagessen musste Susan sich selbst kümmern. Endlich allein, fiel Susans Blick auf eine kleine Uhr auf dem Kaminsims. Es war kurz vor sechs und noch hell. Susan beschloss, sich sofort auf den Weg in die Wapping Street zu machen. Sie wollte so schnell wie möglich Jimmy wieder in die Arme schließen. Ohne sich umzuziehen – sie erfrischte sich nur kurz das Gesicht und die Hände –, verließ sie das Haus. An der nächsten Straßenecke fand sie eine Droschke, die sie in den Stadtteil Lambeth brachte. In der Wapping Street hatte sich nichts verändert, außer dass das Mietshaus über den Winter noch weiter heruntergekommen war. Der Verputz bröckelte an vielen Stellen, und zahlreiche Fensterscheiben waren gesprungen. Susan schluckte, als sie die Haustür öffnete. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Lilo, der sie Jimmy anvertraut hatte, bestimmt schon auf dem Weg zu ihrer Arbeit in der Bar war und ihren Sohn wahrscheinlich bei Mary Scott gelassen hatte. Sie zögerte. Vielleicht sollte sie doch besser am nächsten Vormittag wiederkommen? Lilo würde sie sicher verstehen, während Mary Scott sie nur mit Vorwürfen überhäufen würde. Sie wollte gerade wieder gehen, als sich die Tür zu Marys Wohnung öffnete.
    »Was wollen Sie hier?« Marys Stimme klang barsch. Im Zwielicht des Treppenhauses erkannte sie Susan nicht sofort, ihre gute Kleidung allerdings schon. »Sie haben sich sicher im Haus geirrt, hier wohnen keine feinen Leute.«
    »Guten Abend, Mrs. Scott«, sagte Susan und trat vor, so dass das Licht auf ihr Gesicht fiel. »Ist mein Sohn bei Ihnen?«
    Mary Scotts Augen weiteten sich vor Überraschung.
    »Ach nee, sieh mal an! Susan Hexton, wo kommst du denn plötzlich her? Wir dachten, du wärst tot. Dein altes Zimmer ist längst neu vermietet, da kannste nicht mehr rein. Und deine Sachen sind auch weg. Bist ja damals einfach abgehauen, da hat der Vermieter sie verhökert, um wenigstens etwas von der Miete zu bekommen.«
    »Ich habe nicht vor, wieder hier zu wohnen, Mrs. Scott.« Susans Stimme klang ruhiger, als ihr zumute war, und es schwang ein Hauch Arroganz darin. »Ich kann mir jetzt leisten, in einer besseren Gegend zu wohnen, und bin nur gekommen, um meinen Sohn … um Jimmy zu holen.«
    »Jimmy?« Mary, die Arme vor der Brust verschränkt, lachte gackernd. »Der ist längst fort.«
    »Fort?« Ein kalter Schauer rann Susan über den Rücken. »Was soll das heißen? Ist er denn nicht bei Lilo?«
    »Nee, nee, als du so einfach abgehauen bist, hat Lilo sich erst um den Jungen gekümmert, aber ein paar Wochen später kam jemand, der sagte, er wäre Jimmys Vater. Tja, wenn der Mann der Vater ist … also er hat ihn mitgenommen.«
    Susans Beine drohten nachzugeben, und sie lehnte sich haltsuchend an die Wand, gleichgültig, dass dabei ihr Kleid beschmutzt wurde. Keinen Augenblick in den letzten Monaten hatte sie daran gedacht, dass Paul Jimmy mitnehmen könnte, wenn er feststellte, dass sie verschwunden war. Wie hatte sie nur so dumm sein können! Natürlich hatte Paul von seinem zweifelhaften Kumpel und ehemaligen Zellengenossen erfahren, wo sie inzwischen wohnte. Unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wollte er sie aufsuchen. Das war ja einer der Gründe gewesen, warum sich Susan auf Lavinias Angebot eingelassen hatte. Was aber wollte Paul mit Jimmy anfangen? Susan war sich sicher, dass Paul früher oder später wieder ein krummes Ding drehen würde, wie sonst sollte er seinen Lebensunterhalt bestreiten? Dabei war Jimmy ihm doch nur ein Klotz am Bein.
    »Wissen Sie, wohin der Mann gegangen ist?« Zögernd stellte Susan die Frage und sah bang Marys Antwort entgegen, die ihre Befürchtungen bestätigte.
    »Nee, das hat er nicht gesagt. Wir haben ja gedacht, du bist tot, wie sonst hätten wir uns dein plötzliches Verschwinden erklären sollen? Und wenn der Mann sagt, er wäre der Vater des Jungen, so ist es allemal besser, wenn der Kleine bei ihm ist als in einem Waisenhaus.« Mary Scotts Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie sich vorbeugte

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