Das Lied der Luege
und flüsterte: »Stimmt mit dem Mann etwas nicht? Aber warum biste einfach abgehauen und hast dein Kind im Stich gelassen? Hast auch nie vorher erzählt, dass du verheiratet bist. Ich war von den Socken, als dein Mann plötzlich vor der Tür stand. Und woher haste plötzlich das Geld, dir ein schickes Kleid zu leisten? Hast wahrscheinlich einen reichen Freund, der dich aushält, was?«
Von Marys vielen Fragen schwirrte Susan der Kopf, krampfhaft suchte sie nach Antworten, ohne jedoch zu viel zu verraten.
»Es kann tatsächlich sein, dass mein Ehemann plötzlich hier aufgetaucht ist«, antwortete Susan. »Er ist Jimmys Vater. Ich … ich musste damals fort, es ging nicht anders.«
Mary zuckte die Schultern. Sie spürte, Susan würde ihr nicht mehr verraten, auch nicht, weshalb sie plötzlich so viel Geld zu haben schien.
»Kannst ja mal Lilo fragen, ob die was weiß. Sie hat sich länger mit dem Mann unterhalten, als sie Jimmys Sachen zusammenpackte.«
»Lilo arbeitet noch in der Bar?«
Mary nickte, und Susan lief ohne ein weiteres Wort aus dem Haus. Alles in ihr war in Aufruhr. Sie war davon ausgegangen, dass Paul, wenn er entlassen war und feststellte, dass sie verschwunden war, sich nicht um Jimmy kümmern würde. Sie war sicher, dass er sich noch in London aufhielt. Wie jedoch sollte sie Paul und ihren Sohn in dieser Millionenstadt finden?
Nach wenigen Minuten hatte Susan die Bar erreicht. Um diese Uhrzeit herrschte kaum Betrieb, so sah Lilo sie sofort, als sie eintrat. Die Freundin wurde erst blass, als hätte sie ein Gespenst gesehen, dann eilte sie hinter dem Tresen hervor und schloss Susan in die Arme.
»Susan! Mein Gott, du bist es wirklich! Wir glaubten alle, du wärst tot!«, wiederholte sie Mary Scotts Worte.
Susan machte sich aus der Umarmung frei.
»Lilo, ich kann dir jetzt nicht alles erklären, aber ich muss wissen, wo Jimmy ist.«
Ein Schatten fiel über Lilos Gesicht.
»Als du zwei, drei Wochen lang verschwunden warst, da kam ein Mann …«
»Ja, ich weiß.« Susan winkte ungeduldig ab. »Ich habe bereits mit Mary Scott gesprochen.«
Lilo seufzte. »Er sagte, sein Name wäre Paul Hexton und er wäre dein Ehemann und Jimmys Vater. Ach Gott, Susan, was hätte ich denn tun sollen?« Entschuldigend blickte Lilo Susan an. »Ich arbeite doch jeden Abend bis spät in die Nacht. Meistens hat sich Mary dann um Jimmy gekümmert, aber wir wissen beide, wie sie ist. Wenn der Mann sein Vater ist, dann musste ich ihm den Jungen doch mitgeben.«
»Du hast keinen Fehler gemacht.« Beruhigend legte Susan eine Hand auf Lilos Arm. »Ich ganz allein bin dafür verantwortlich. Hat Paul gesagt, was er vorhat oder wo er wohnt?«
Lilo überlegte, schüttelte dann den Kopf.
»Nein, nicht, dass ich mich erinnern könnte. Aber willst du mir jetzt nicht sagen, wo du warst? Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.«
»Es tut mir leid, ich kann nicht darüber sprechen.« In Susans Blick trat Verzweiflung. »Ich muss Jimmy finden, so schnell wie möglich, er darf nicht bei seinem Vater bleiben.«
»Magst du einen Drink?«, fragte Lilo und ging hinter den Tresen. »Also, ich kann auf die Überraschung, dich wiederzusehen, einen vertragen.«
Obwohl die wenigen männlichen Gäste der Bar erstaunt auf Susan schauten, als diese den Brandy mit einem Schluck hinunterstürzte, ließ sich Susan das Glas gleich noch einmal füllen. Dann jedoch musste sie gehen, denn das Lokal füllte sich, und Lilo hatte alle Hände voll zu tun. Außerdem konnte ihr die Freundin ohnehin nicht weiterhelfen.
Susan kam pünktlich zurück in die Pension, als Mrs. Oxcombe das Abendessen servierte. Bei dieser Gelegenheit lernte sie die anderen Gäste kennen: zwei ältere, griesgrämig blickende Schwestern, die nur leise eine Begrüßung murmelten, aber sonst den ganzen Abend über nicht sprachen; ein Ehepaar mittleren Alters, das in der Gegend auf der Suche nach einer Wohnung war, weil sie nicht mehr auf dem Land leben wollten; ein älterer Herr aus dem Norden, der geschäftlich in der Stadt weilte, und ein großer, hagerer junger Mann mit abstehenden Ohren und einer dicken Hornbrille. Er stellte sich als Ernest Hornsby vor und fragte, ob er an Susans Tisch Platz nehmen dürfe.
Susan, die eigentlich mit ihren Gedanken allein sein wollte, konnte die Bitte schlecht ablehnen, aber Mr. Hornsby war ein stiller Mensch. Ihre spärliche Konversation drehte sich ausschließlich um das Wetter, das für diese Jahreszeit typisch kühl und
Weitere Kostenlose Bücher