Das Lied der Luege
Entlassung nicht bei ihr gemeldet hatte.
»Unsere Mutter ist sehr krank«, erklärte sie mit einem unschuldigen Blick. »Sie wird nicht mehr lange leben, und ihr größter Wunsch ist es, Paul noch einmal in die Arme zu schließen. Vielleicht schämt er sich, nach Haus zu kommen, es ist jedoch gleichgültig, ob er straffällig geworden ist – Mutterliebe ist durch nichts zu zerstören.«
Susan verschwieg ebenfalls, dass sich bei Paul ein kleiner Junge befinden musste. Wenn sie erst seine Adresse hatte, dann würde sie die Sache mit Jimmy selbst regeln.
Sie zahlte für drei Tage im Voraus und verließ das Büro. Jetzt konnte sie nichts weiter tun, als zu warten und zu hoffen, dass der Detektiv hielt, was er versprochen hatte.
»Du meine Güte«, rief Susan entsetzt. »Das ist ja schlimmer als in der Wapping Street.«
Der Detektiv war sein Geld wert gewesen. Gestern Abend hatte Susan Pauls Adresse erhalten. Nun stand sie fassungslos in einer engen, mit Müll und sonstigem Unrat verschmutzten Gasse im Bezirk St. Giles-in-the-Fields und starrte auf das Haus, in dem Paul angeblich wohnte. Obwohl ein leichter Wind wehte, schienen die üblen Gerüche nach verfaultem Kohl und menschlichen wie tierischen Exkrementen wie eine Glocke über der Straße zu hängen. Susan gab sich einen Ruck und ging entschlossen auf das Haus zu. Es war ein typisches Mietshaus, wie vor etwa hundert Jahren zahlreiche Häuser in London erbaut worden waren, mit vier Stockwerken und engen, muffigen Fluren. Susan klopfte an die erste Tür im Erdgeschoss. Schlurfende Schritte näherten sich, die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und ein Mann mit langen, ungepflegten grauen Haaren und einem ebensolchen Bart murrte: »Was wollen Sie?«
»Ich suche einen Mr. Hexton«, antwortete Susan. »Paul Hexton, er soll in diesem Haus wohnen.«
Der Alte gab ein grunzendes Geräusch von sich.
»Eine Treppe hoch, zweite Tür links.« Bevor der Alte die Tür zuschlug, rief er noch: »Wenn Sie die Leute kennen, dann richten Sie denen aus, dass das ewige Kindergeschrei nicht zu ertragen ist. Die sollen zusehen, dass sie ihren Balg ruhig bekommen, sonst passiert was.«
Einen Moment lang stand Susan wie erstarrt da, dann hastete sie, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Bereits vor der besagten Tür hörte sie ein Kind weinen.
»Jimmy!«
Sie schrie den Namen ihres Sohnes und drückte auf die Klinke. Zum Glück war die Tür unverschlossen. Ein unbeschreiblicher Gestank schlug Susan entgegen, und sie stolperte über einen Berg von schmutzigen Lumpen. Die Wohnung, oder vielmehr das, was als Wohnung bezeichnet wurde, bestand aus zwei Räumen, und in dem einen, der auch als Küche diente, saß ein kleiner Junge auf dem Boden und weinte.
»Jimmy! O Gott, Jimmy!« Susan rannen Tränen der Erleichterung, aber auch des Entsetzens über die Wangen, als sie das Kind in die Arme schloss. Sofort begann Jimmy lauter zu weinen. Susan strich ihm übers Haar, das lang und schmutzig über die Ohren hing. »Ganz ruhig, mein Kleiner, du musst nicht mehr weinen. Mami ist ja jetzt da.«
Jimmys kleiner Körper versteifte sich in ihren Armen.
»Geh weg … weg …«, schluchzte er, und in seinen Augen lag Angst.
Er erkennt mich nicht mehr, dachte Susan erschrocken. Ihr kleiner Sohn wusste nicht mehr, wer sie war.
»Wir gehen jetzt, Jimmy«, sagte sie leise und versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich bin deine Mami, und Mami bringt dich jetzt wohin, wo es schöner ist.«
Sie nahm den Jungen auf den Arm. Er war schwerer geworden und musste seit langer Zeit nicht mehr gewaschen worden sein, denn seine Ausdünstungen raubten Susan beinahe den Atem. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und eine rothaarige Frau stellte sich Susan in den Weg.
»Wer sind Sie? Was machen Sie da? Geben Sie sofort das Kind her, sonst rufe ich einen Bobby!«
Die Stimme der Frau, wohl einige Jahre älter als Susan, war rauh, und ihr Cockney-Dialekt wies sie als eine Angehörige der Unterschicht aus.
»Wer sind Sie?«, gab Susan die Frage zurück und blickte hinter die Frau. »Ist Paul auch hier?«
»Was wollen Sie denn von Paul?« Die grünen Augen der Frau verengten sich misstrauisch. »Wie kommen Sie dazu, einfach in unsere Wohnung einzudringen und das Kind an sich zu nehmen?«
»Ihre Wohnung?« Susans Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Dann leben Sie also mit Paul Hexton zusammen?«
»Wüsste nicht, was Sie das angeht. Verschwinden Sie, aber sofort, oder soll ich Sie eigenhändig
Weitere Kostenlose Bücher