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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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besuchte die letzte Vorstellung von Sarah Bernhardt, die diese in London gab. Aufgrund ihres immensen Erfolges hatte sich die Diva überreden lassen, ihre Gastspielreise um einige Wochen zu verlängern und die Auftritte in Frankreich zu verschieben. Sie war durch halb England gereist, um an allen großen Bühnen des Landes zu spielen. Madame Sarah wurde in York, Lancaster, Manchester, Exeter oder Brighton ebenso gefeiert wie in der Hauptstadt. Zum letzten Mal führte sie nun die
Phédre
im
Gaiety-Theatre
auf, und es verstand sich von selbst, dass auch diese Vorstellung vor ausverkauftem Haus stattfand. Ja, es standen sogar an die hundert Menschen auf der Straße vor dem Theater, die hofften, einen letzten Blick auf die große Schauspielerin werfen zu können, bevor sie England den Rücken kehrte. Als Susan die Diva nach der Vorstellung in ihren Privaträumen aufsuchte – dieses Mal gab sie nur einen kleinen Empfang mit rund zwei Dutzend Gästen –, war sie sehr traurig, dass sie die Frau wohl lange nicht wiedersehen würde, denn in den nächsten Jahren war keine neue Englandtournee geplant. Christine fungierte wieder als Übersetzerin, und so konnte Susan für alles danken, was Sarah für sie getan hatte.
    Wohlwollend nickte Madame Sarah, als sie hörte, dass Susan sich entschlossen hatte, Schauspielerin zu werden.
    »Es gibt keinen schöneren Beruf auf dieser Welt«, übersetzte Christine. »Denn wo sonst kann man jeden Tag jemand anderer sein? Nicht nur sein Aussehen, sein Haar und seine Kleidung wechseln, sondern auch den Charakter. Mal bist du ein naives junges Mädchen, das seine erste große Liebe erlebt, und einen Tag später vielleicht eine kaltblütige Mörderin, die ihrem Feind den Dolch mitten ins Herz rammt. Trotzdem, oder gerade deswegen, lieben dich die Menschen. Nur eines solltest du niemals vergessen.« Madame Sarah winkte Susan zu sich heran und legte eine Hand auf deren Kopf. Sie senkte ihre Stimme, als sie fortfuhr: »Gleichgültig, wen du auf der Bühne darstellst und in welches Kostüm du schlüpfst – bleib in deinem Herzen immer du selbst. Tue nie etwas, zu dem dir dein Herz nicht rät, aber tue stets das, zu dem dein Herz dir rät. Das gilt im Beruf wie in der Liebe.« Madame Sarah lächelte, und ihr Blick schweifte versonnen in die Ferne. »In meinem Leben habe ich viele Liebhaber gehabt. Warum sollte ich es leugnen, es weiß ohnehin die ganze Welt, und ich hoffe, es werden noch zahlreiche folgen, denn die Liebe stirbt nicht mit dem Alter. Manche Männer haben mir mehr bedeutet, manche weniger oder waren nur Mittel zum Zweck. Dennoch habe ich jeden einzelnen von ihnen in mein Herz geschlossen, und die Erinnerung an die gemeinsamen Stunden werden erst bei meinem Tod weichen. Du bist noch jung, liebe Susan, beneidenswert jung. Gleichgültig, was das Leben dir bringen und wohin dein Weg gehen wird – vergiss niemals, zu lieben. Liebe bedeutet zwar oft auch Verzicht und Schmerz. Schmerzen, die dich denken lassen, es würde dich innerlich zerreißen und du könntest keinen einzigen Tag länger ohne den geliebten Menschen leben, aber wir Menschen, besonders wir Frauen, sind stärker, als wir vermuten. Irgendwann lässt dieser Schmerz nach und wird nur noch eine bittersüße Erinnerung sein. Also, liebe Susan, verlerne niemals, auf dein Herz zu hören.«
    Tief ergriffen von dieser langen Rede verabschiedete sich Susan von Sarah Bernhardt. Die Frau hatte nicht nur ihr Leben verändert, sondern ihr auch aus der Seele gesprochen. Allerdings war der Schmerz der verlorenen Liebe, der in Susans Herzen tobte, nicht die Sehnsucht nach einem Mann. Niemals hatte Susan einen Mann, auch nicht Paul, derart heftig geliebt, aber der Gedanke an ihre Kinder ließ sie manchmal verzweifeln. Und es war nicht nur Jimmy, nach dem sich Susan so sehr sehnte, dass es weh tat, sondern auch ihr kleines Mädchen. Anabell … das Kind, das aus einer Gewalttat entstanden war und das sie niemals gewollt hatte. Das Kind, das sie für tausend Pfund verkauft und alle Rechte an ihr abgetreten hatte. Das Kind, welches sie niemals im Leben wiedersehen und niemals erfahren würde, wie es ihm erging. Wenn das Liebe war, dann wollte Susan niemals wieder lieben. Weder einen Mann noch ein Kind oder sonst jemanden auf dieser Welt. Liebe bedeutete Schmerz, und Susan wollte nicht leiden. Nein, sie würde ihr Herz verschließen, und niemandem sollte es gelingen, diesen Schutzwall zu durchbrechen.
     
    Der Abend der Premiere war für

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