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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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würde sie sich ihrer Annäherungen erwehren können. Sie war hier, um zu spielen, zu nichts anderem.
    Sie probten täglich von acht bis zwölf Uhr, dann hatten sie eine Stunde Mittagspause, in der sie meistens in ein benachbartes Lokal gingen, danach wurden die Proben bis sechs Uhr am Abend fortgesetzt. Wenn Theo, wie der Regisseur allgemein genannt wurde, nicht zufrieden war, scheute er sich nicht, die Mädchen einzelne Szenen wieder und wieder proben zu lassen, auch wenn es bis spät in die Abendstunden hinein dauerte. Obwohl Susan, ebenso wie ihre Mitbewohnerin Joan, nur eine kleine Rolle in dem neuen Stück hatte, mussten sie dennoch die ganze Zeit über anwesend sein. Oft saßen sie stundenlang tatenlos in den Kulissen herum, stets bereit, auf Theos Ruf hin auf die Bühne zu eilen.
    »Ist manchmal ganz schön langweilig, nicht wahr?«, sagte Joan und zündete sich eine Zigarette an. »Willst du auch eine?«
    Susan lehnte ab, sie hatte noch nie geraucht und wollte damit auch nicht anfangen, obwohl es immer mehr Frauen gab, die diesem Laster frönten und sich nicht scheuten, auch in der Öffentlichkeit zu rauchen.
    »Es ist trotzdem faszinierend«, sagte Susan und verfolgte das Spiel auf der Bühne. »Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie wir es schaffen sollen, das Stück in fünf Wochen aufzuführen. Es ist doch erst rund ein Viertel geprobt.«
    Joan lachte und inhalierte tief den Rauch.
    »Das schafft Theo schon, keine Bange. Ich arbeite jetzt seit drei Jahren für ihn. Manchmal ist er etwas derb, fast schon grob, und ein Lob kommt ihm selten über die Lippen. Schlussendlich jedoch werden seine Stücke immer große Erfolge, und du kennst ja den Spruch: Vor den Erfolg hat der liebe Gott den Schweiß gesetzt.«
    Susan lachte, dann wurden die Blumenmädchen auf die Bühne gerufen. Am Anfang des Stückes gab es eine Szene, die in Covent Garden spielte, was sehr passend war, und Susans Rolle bestand darin, einem fein gekleideten Herrn einen Strauß Veilchen zu verkaufen. In der vergangenen Woche hatte sie den Satz: »Mein Herr, bitte kaufen Sie einen Strauß. Die Blumen sind ganz frisch und duften köstlich, sie werden Ihre Frau erfreuen«, sicherlich über hundert Mal gesagt. Wenn sie daran dachte, dass sie im mittleren Teil wieder einen Auftritt, der dann knappe fünf Minuten dauern sollte und mehrere Sätze beinhaltete, hatte, wurde ihr angst und bange. Wenn Theo sie diese kleine Szene immer und immer wiederholen ließ – wie lange sollte es dann mit der längeren dauern?
     
    Das Zusammenleben mit Doro, Hetty und Joan gestaltete sich mehr als angenehm. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Susan so etwas wie Freundinnen. Früher war ihr wegen der harten Arbeit keine Zeit für Freundschaften geblieben, einzig Lilo und sie waren sich etwas nähergekommen, und so genoss Susan das Zusammensein mit den Frauen sehr. Joan war in ihrem Alter, Hetty zwei Jahre jünger, während Doro, die im Herbst dreißig wurde, die Älteste war. Da sie zudem als Sekretärin so etwas wie die rechte Hand Theos war und andauernd mit ihm zusammensteckte, spielte sie sich in ihrem Haushalt gerne als Mutter auf. Dies machte Doro aber auf eine so liebenswürdige Art und Weise, dass niemand ihr ihre bestimmende Art krummnahm.
    »Es ist doch auch schön, ein wenig bemuttert zu werden«, bemerkte Joan, die ihre Eltern schon im Kindesalter verloren hatte und in einem Waisenhaus aufgewachsen war. »Was ist eigentlich mit dir, Susan? Leben deine Eltern noch?«
    Susan bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln.
    »Mein Vater ist schon lange tot, meine Mutter starb vor ein paar Jahren«, antwortete sie. Ihre Kolleginnen sollten nicht erfahren, dass ihre Mutter wahrscheinlich immer noch als Fischweib in Billingsgate um ihr tägliches Dasein kämpfte und sich mit Alkohol betäubte. Joans Frage hatte jedoch Susan an etwas erinnert, was sie für abgeschlossen gehalten hatte. Wahrscheinlich war es wenig christlich, dass sie nicht versuchte, herauszufinden, ob ihre Mutter noch am Leben war, und, wenn ja, ihr etwas von dem Geld abgab, damit diese den armen Verhältnissen den Rücken kehren konnte. Susan konnte sich jedoch nicht dazu aufraffen, diesen Schritt zu tun. Für sie war ihre Mutter tot, zu sehr hatte sie unter deren Verhalten und ihrer Trunksucht gelitten. Niemals wieder wollte sie nach Billingsgate gehen und dort jemanden aus ihrer Vergangenheit treffen. Das war ein Kapitel ihres Lebens, das Susan für immer vergessen wollte.
     
    Susan

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