Das Lied der Luege
von Stephen nicht zu mehr als zu diesem einen harmlosen Kuss hatte hinreißen lassen. Wäre sie mit ihm ins Bett gegangen, würde sie sich jetzt furchtbar schämen, nur eine unter vielen gewesen zu sein. So jedoch konnte sie hocherhobenen Hauptes in den Spiegel schauen.
Der Sommer war in diesem Jahr heiß und trocken. Obwohl viele Städter London verließen, um auf ihren Landsitzen Abkühlung und frische Luft zu suchen, machte das
Blue Horizon
keine Sommerpause.
Laura’s Dream
lief nach wie vor gut, wenngleich nicht mehr alle Vorstellungen ausverkauft waren. Mit jeder Vorstellung gewann Susan mehr Sicherheit, und sie freute sich auf die Proben für das neue Stück, in dem sie eine größere Rolle erhalten sollte.
Es war unvermeidlich, dass Stephen Polkinghorn noch ein paar Mal im Theater auftauchte. Susan wechselte ein paar höfliche Worte mit ihm, immer mit dem Hinweis, sie sei schrecklich in Eile und habe keine Zeit für eine längere Plauderei oder gar für eine Verabredung. Susan wollte einfach mit allem, was sie an die Vergangenheit, an Lady Lavinia und Sumerhays und an ihre Tochter erinnerte, nichts mehr zu tun haben. Nachdem sie Stephen mehrmals abgewiesen hatte, stellte sie fest, dass Hetty Stephens Einladungen annahm und an ihren freien Abenden mit ihm ausging.
Na, wenn schon, dachte Susan, Hetty war erwachsen und wusste, was sie tat. Es war nicht Susans Aufgabe, Hetty wie eine ängstliche Mutter zu beschützen. Sie hatte die Kollegin vor Stephen gewarnt – der Rest war allein Hettys Angelegenheit. Susan hoffte nur, Stephen würde Hetty nicht das Herz brechen, denn sie mochte die junge Schauspielerin sehr. Oder, schlimmer noch, er würde sie schwängern und sich dann aus dem Staub machen.
In den Monaten September und Oktober wurde Susan die Sorge um Hetty und Stephen abgenommen. Für das ganze Ensemble überraschend, verkündete Theo, sie würden auf Tournee durch Großbritannien gehen. Susan war wie alle ihre Kollegen und Kolleginnen nicht nur begeistert, sondern auch voller nervöser Anspannung. In dem Ensemble brach eine hektische Betriebsamkeit aus, denn für eine fast achtwöchige Gastspielreise mussten unzählige Dinge vorbereitet werden. Die Kostüme wurden durchgesehen und, wenn nötig, ausgebessert, und ein Teil der Kulissen, die sie mitnehmen wollten, musste neu gezimmert und bemalt werden. Theo setzte zwei Proben in der Woche zusätzlich an, obwohl alle meinten, das Stück zu beherrschen, aber er wünschte, dass sich alle Schauspielerinnen und Schauspieler nochmals steigerten, wenn sie in fremden Städten auftraten.
Die Tournee führte die Truppe durch das ganze Land. Susan lernte die Arbeiterstädte Birmingham und Manchester kennen, in denen sich, vom Kohlenstaub geschwärzt, ein Haus an das andere reihte; sie ging an der meilenlangen Strandpromenade von Blackpool spazieren, ließ sich das Haar vom böigen Seewind zerzausen und war von Schottlands Hauptstadt Edinburgh so fasziniert, dass sie gerne mehr Zeit dort verbracht hätte. Der Reiseplan war jedoch straff organisiert, und so hatte die Truppe kaum Gelegenheit, sich die Sehenswürdigkeiten der Städte anzusehen. Sie spielten in Glasgow ebenso wie in Aberdeen und Inverness, und Susan bedauerte, dass auch hier die Zeit fehlte, einen Abstecher zu Loch Ness zu machen, um vielleicht einen Blick auf das berühmte Monster werfen zu können. Susan lernte Caernarfon in Nordwales kennen, den Ort, in dem seit Jahrhunderten der Prince of Wales gekrönt wurde, ebenso wie Cardiff, eine vom Kohlebergbau beherrschte und dadurch wenig schöne Stadt. Die Leute jedoch strömten auch hier ins Theater, und Theo hatte recht behalten –
Laura’s Dream
war genau die richtige Kost für hart arbeitende Menschen, die für ein paar Stunden die Kümmernisse des Alltags vergessen wollten.
Die Wochen vergingen wie in einem Rausch, und Susan war so glücklich wie nie zuvor. Die Zeit ihrer Kindheit und Jugend, ihre Ehe mit Paul, ja, selbst ihre Schwangerschaft und der Verlust von Anabell und Jimmy kamen ihr vor, als wäre dies alles nicht ihr, sondern einer anderen Person widerfahren, einer Frau, die mit der heutigen Susan Hexton nichts mehr gemein hatte. Das andere Leben – so nannte Susan ihre Vergangenheit, und das würde es immer für sie bleiben – ein anderes Leben, in das sie niemals wieder zurückkehren wollte.
Gegen Ende der Tournee erreichten sie Plymouth in der Grafschaft Devon. Es war Ironie des Schicksals, dass ihr Stück im Theater in der
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