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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Union Street aufgeführt wurde, in das Stephen Polkinghorn Susan damals eingeladen und in dem sie ihr erstes Bühnenstück gesehen hatte. Es hatte sich nichts verändert, und Susan erwartete fast, Janna Howard zu begegnen, aber offenbar spielte dieses Ensemble nicht mehr an diesem Haus. Sie fragte den Portier nach Janna, der ihr jedoch keine Auskunft geben konnte, da er erst seit dem Sommer in dem Theater arbeitete. Es war ein ergreifender Moment, die Bühne zu betreten, wo für Susan alles angefangen hatte. Wenn sie zurückdachte, so war ihr klar, dass sie bereits damals tief in sich den Wunsch gespürt hatte, Schauspielerin zu werden. Sie hatte Janna Howards Texte für sich interpretiert und bemerkt, was die junge Schauspielerin anders und besser hätte machen können. An diesem Abend spielte Susan ihre beiden kurzen Szenen mit derart viel Gefühl, dass Theo ihr nachher wohlwollend auf die Schulter klopfte.
    »Wird Zeit, dass du eine größere Rolle bekommst, Mädchen. Wäre schade um dein Talent, dich im Hintergrund zu lassen.«
    Dieses Kompliment – denn Theo lobte höchst selten, aber wenn, dann konnte man sich darauf verlassen, dass er es ernst meinte – versetzte Susan in Hochstimmung, und sie fühlte sich leicht und beschwingt wie nach einem guten Glas Champagner. Da sie drei Tage in Plymouth gastierten und zwei Abendvorstellungen gaben, hatte das Ensemble ausnahmsweise einen Tag zur freien Verfügung. Früh am Morgen schlenderte Susan hinunter zum Fährhafen. Hier war sie damals mit Stephen aus Cornwall angekommen … Sie kniff die Augen zusammen und spähte über den Fluss. Der Schmerz kam so unerwartet, dass Susan keuchend nach Luft schnappte. Es war, als würde ihre Brust innerlich zerrissen, und unvermittelt liefen ihr die Tränen über die Wangen, und es gelang ihr nicht, mit dem Weinen aufzuhören. Die plötzliche Erkenntnis, dass dort drüben – nur getrennt vom Fluss Tamar – vielleicht ihr Kind war, fuhr ihr wie ein stechender Schmerz ins Herz. Susan wusste nicht, ob sich die Callingtons in London aufhielten, es bestand jedoch die Möglichkeit, dass Lady Lavinia und Anabell auf Sumerhays weilten. Anabell – sie war jetzt ein halbes Jahr alt. Vielleicht konnte sie bereits sitzen, und ganz sicher hielt sie Lavinia für ihre Mutter.
    Susan lehnte sich gegen eine Mauer und versuchte, sich zu beruhigen. In diesem Moment legte eine Fähre an. Sie überlegte nicht lange, sondern lief zur Anlegestelle und löste ein Ticket nach Torpoint. Während der Fahrt stand sie an Deck, obwohl der Oktoberwind ihr schneidend ins Gesicht blies. In Torpoint angekommen, nahm sie sich eine Droschke und ließ sich nach Sumerhays bringen. Glücklicherweise hatte Susan heute Morgen ihre Geldbörse eingesteckt, obwohl sie nur einen kurzen Spaziergang machen wollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie auf dem Landsitz erwartete. Auf keinen Fall konnte sie einfach an die Tür klopfen und verlangen, ihre Tochter zu sehen. Die Abmachung mit Lavinia Callington, niemals wieder mit ihr oder jemandem der Familie in Kontakt zu treten, musste sie respektieren, denn sie war dafür gut bezahlt worden.
    Eine halbe Meile vor dem Torhaus bat Susan den Kutscher, zu halten und auf sie zu warten.
    »Die Wartezeit kostet aber was«, brummte der Kutscher in seinem cornischen Akzent.
    »Keine Sorge, guter Mann, Sie werden Ihren Lohn bekommen. Bitte warten Sie, ich muss bald wieder zurück zur Fähre.«
    Vor dem Torhaus blieb Susan stehen. Das hohe, schmiedeeiserne Tor zur Auffahrt nach Sumerhays war geschlossen, auch im Pförtnerhaus regte sich nichts. Susan wusste nicht, was sie sagen sollte, falls jemand öffnete, trotzdem klopfte sie an die blaugestrichene Tür. Im Haus regte sich jedoch nichts. Sie versuchte, das Tor zu öffnen, aber ein großes Vorhängeschloss versperrte ihr den Weg. Offenbar hielt sich derzeit niemand auf Sumerhays auf.
    Susan wandte sich gerade ab, um zur Kutsche zurückzugehen, als eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Frau mit krummem Rücken die Straße entlangkam. Sie musterte Susan kurz und rief dann: »Die Herrschaften sind nicht da.«
    Susan trat näher zu der Frau.
    »Ich bin eine Bekannte der Familie und war zufällig in der Nähe. Ist Sumerhays derzeit nicht bewohnt?«
    Die Alte schüttelte den Kopf.
    »Nee, die sind vor zwei oder drei Wochen alle in die Stadt gefahren, um den Winter dort zu verbringen. Versteh ich zwar nicht, denn in Cornwall ist es milder, aber es geht mich ja nichts an. Mein Mann und ich

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