Das Lied der roten Erde (German Edition)
hatte sich in den vergangenen Tagen immer mehr als wahrer Freund erwiesen. Rasch sah sie sich um, ob Mrs Zuckerman ihr nicht doch gefolgt war. Aber das korpulente Weib saß noch am Tisch und stopfte eifrig Gebäck in sich hinein.
Wentworths Kinder, die sich beim Nahen des Wagens erwartungsvoll an den Wegrand gestellt hatten, rannten jetzt auf den Zweispänner zu, umringten ihn und ließen ihren Vater kaum aussteigen. Er umarmte sie lachend und erlaubte ihnen, in die Kutsche zu klettern. Dann deutete er mit dem Kopf auf das Fenster zur Wohnstube. »Ihr habt Besuch?«
Moira verdrehte die Augen. »Mrs Zuckerman«, seufzte sie. »Und ich weiß nicht, wie ich sie wieder loswerden kann.« Sie zog ihn ein paar Schritte zur Seite. »Wie geht es ihm?«, fragte sie im Flüsterton. »Konntet Ihr mit ihm sprechen?«
»Ihr müsst Geduld haben. Solche Verletzungen brauchen Zeit.«
»Ja«, sagte Moira ungeduldig. »Das weiß ich. Ist er bei Bewusstsein? Hat er große Schmerzen? Dr. Wentworth, bitte!«
»D’Arcy«, berichtigte Wentworth. Als er lächelte, kräuselten kleine Fältchen seine Augenwinkel. »Ihr sollt mich doch D’Arcy nennen. Es geht ihm gut. Ihr müsst Euch keine Sorgen machen.«
Moira nickte zweifelnd. Mehrmals hatte sie Wentworth gebeten, nichts zu beschönigen, dennoch befürchtete sie, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit erzählte. Die Antworten ähnelten sich. Es ginge Duncan den Umständen entsprechend. Er sei bei Bewusstsein. Das Fieber sei gesunken. Natürlich habe er Schmerzen, aber die seien zu ertragen.
»Hat er nach mir gefragt?«
Wentworth schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht wagen.«
Moira biss sich auf die Lippen. Sagte Wentworth die Wahrheit? Oder ging es Duncan so schlecht, dass er dazu einfach nicht in der Lage war?
D’Arcy schien ihre Gedanken zu ahnen. »Grämt Euch nicht. Er ist dort in guten Händen. Ihr wisst doch, auch Euer Mann sorgt gut für ihn.«
Als Wentworth ihr zum ersten Mal davon erzählt hatte, hatte sie es nicht glauben können. McIntyre kümmerte sich persönlich um Duncan? Dass ihr Mann ihm offenbar nichts Schlechtes wollte, beruhigte und verwirrte sie gleichermaßen.
»Ihr könnt – Mrs Zuckerman, welch freudige Überraschung!« Geistesgegenwärtig wechselte Wentworth das Thema, als die dicke Frau auf die Veranda trat. »Ich wollte gerade mit meinen Kindern aufbrechen, als ich Eure Kutsche hier gesehen habe. Wenn Ihr ebenfalls an die Rückreise denkt, könnten wir den Weg gemeinsam nehmen.«
»Oh, Dr. Wentworth, wie aufmerksam von Euch!« Diesmal wackelte das Doppelkinn vor Entzücken. »Ich hätte längst den Heimweg angetreten, aber ich kann doch die arme Mrs McIntyre nicht allein lassen …«
Moira versicherte, dass sie das sehr wohl könne. Wenige Minuten später sah sie ihnen von der Veranda aus nach, bis die beiden Kutschen in der Abenddämmerung verschwunden waren. In zwei Tagen würde Wentworth wieder ins Lazarett fahren und vorher seine Kinder bei ihr vorbeibringen.
Sie fächelte sich den Schweiß vom Ausschnitt, dann drehte sie sich um, eilte in die Wohnstube an den einfachen Sekretär und holte einen Bogen Papier, Feder und das Tintenfass heraus. Die Feder in ihrer Hand zitterte, als sie sie in die Tinte tauchte. Sie würde Duncan schreiben. Nur eine kurze Botschaft. Gerade so viel, wie auf einen kleinen, zusammengefalteten Zettel passte.
*
Die untergehende Sonne färbte den Himmel blutrot. Der Ruf eines Kookaburra drang aus dem Wald; erst leise, dann brach der Vogel in lautes, fast menschliches Lachen aus. Zeit der Dämmerung, Zeit der Jagd. Der Geruch des Tages veränderte sich, verschwand, wich dem Duft der Nacht.
Ningali sah zu, wie die Schatten länger wurden und die Dunkelheit sich immer weiter vorwagte. Neben sich spürte sie die feuchte Schnauze des Dingos. Aus den beiden langgestreckten Gebäuden in der Nähe des Flusses kamen nach und nach einige weiße Menschen und gingen fort. Der Mann, mit dem Mo-Ra zusammenlebte, war auch dabei. Wie am Vortag schon wartete sie, beobachtete. Harrte geduldig aus, bis die Nacht das letzte Licht des Tages verdrängt hatte. Dann schlich sie sich lautlos an das vordere der beiden Gebäude heran. Die Tür ließ sich leicht und lautlos öffnen. Der Dingo folgte ihr, presste sich dicht an sie, als wollte er sie in dieser ungewohnten Umgebung schützen.
Schlanke Pfeiler stützten das Dach. In dem langen Raum lagen dicht gedrängt zahlreiche
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