Das Lied der roten Erde (German Edition)
Kette aus Eisengliedern spannte sich dazwischen. Um beim Laufen nicht darüber zu stolpern, musste er sie mit einem Strick an seinem Gürtel befestigen. Ein weiteres Paar Fesseln mit einer kurzen Kette schloss sich um seine Handgelenke. Diese zumindest ließen sich von den Aufsehern öffnen.
»Du gewöhnst dich schon dran«, hatte Samuel gesagt. Der Hüne trug seit seinem missglückten Fluchtversuch ebenfalls Ketten, aber ihn schienen sie kaum zu stören.
Die Sonne stand als roter Glutball an einem Himmel von fast unnatürlichem Blau. Es war Mitte November, ein früher Sommer hatte Einzug gehalten. Überall spross neues Leben, die Bäume trugen Blüten in Cremeweiß und Rosa, aber Duncan hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Schweiß rann ihm über den Körper und biss in den kaum verheilten Striemen auf seinem Rücken. Seit heute war er zurück im Straflager von Toongabbie, wo nur Schinderei, Hunger und Elend auf ihn warteten. Und dabei hatte er geglaubt, nie wieder hierher zu müssen.
Um sich abzulenken, zählte er alles, was ihm in den Kopf kam. Ihre Arbeitsgruppe bestand aus acht Sträflingen, die an diesem Vormittag eine riesige Wurzel auf einem frisch gerodeten Waldstück ausgraben mussten. Sechs Monate würde man ihn die Fesseln tragen lassen. Noch fünfeinhalb Jahre musste er hier schuften. So lange würde es dauern, bis er endlich frei war, denn eine mögliche Begnadigung war in weite Ferne gerückt. Fünfeinhalb lange Jahre. Außerdem musste er jederzeit damit rechnen, dass man ihn zu den ausstehenden vierundsiebzig Schlägen abholte. Er war gerade einmal sechs Wochen im Lazarett gewesen. Erstaunlich kurz für die Schwere seiner Verletzungen.
In seiner Erinnerung verwischten die ersten Tage im Lazarett zu einem wirren Gemisch aus Fieberträumen und schrecklichen Schmerzen, schlimmer noch als die Peitschenhiebe. Man hatte Salz in seine Wunden gerieben, um eine Infektion zu verhindern. Ärzte waren gekommen und gegangen. Dr. McIntyre. Dr. Wentworth. Andere, namenlose Helfer. Dann eine kühle Paste in nächtlicher Stille, die den vernichtenden Schmerz auf seinem Rücken endlich linderte. Seitdem war die Heilung rasch vorangeschritten – so rasch, dass manche mutmaßten, es ginge nicht mit rechten Dingen zu. War das tatsächlich July gewesen, wie er einmal zu erkennen glaubte? Wieso? Was fand dieses Mädchen an ihm, dass es sich sogar bis ins Lazarett hineinwagte, um ihm zu helfen?
Eines Abends, als Dr. Wentworth seine letzte Runde machte, hatte Duncan plötzlich die Kanten eines zusammengefalteten Papiers zwischen seinen Fingern gespürt.
»Rasch«, flüsterte Dr. Wentworth. »Lest und vernichtet es.«
Duncan wartete mit klopfendem Herzen, bis seine Nachbarn auf ihren Pritschen zur Ruhe gekommen waren, dann entfaltete er den Zettel.
Sein Herz tat einen Satz, als er erkannte, von wem er kam, auch wenn er keine richtige Unterschrift trug. Moira! Die wenigen Zeilen waren so klein geschrieben, dass er Mühe hatte, sie in dem schwachen Licht der flackernden Talgkerzen zu entziffern.
»Du fehlst mir so sehr«, schrieb sie. »Aber unsere Zeit wird kommen. Nichts kann uns trennen. Für immer Dein. M.«
Er ließ den Zettel sinken und schloss die Hand darum. Eine ganze Weile lag er still, das Papier in seiner Faust geborgen, nah an seinem Herzen. Er hätte am liebsten geweint. In diesem Moment begrüßte er fast die Ablenkung durch den körperlichen Schmerz, der in seinem Rücken tobte. Sie durfte das nicht! Sie musste ihn vergessen! Für sie beide gab es keine Zukunft.
Als die Nacht hereingebrochen war, hatte er das Papier zerrissen und sich in den Mund gesteckt, hatte schwer an den Fetzen geschluckt.
Verbissen beugte er sich nun über die Wurzel und schlug seine Axt so heftig in das Holz, dass ein großer Strang absplitterte. Er spürte, wie die Striemen auf seinem Rücken erneut aufplatzten und Blut sein Hemd tränkte.
»Mach langsam, O’Sullivan«, ertönte die Stimme des Aufsehers. »Ich habe nichts davon, wenn sie dich gleich wieder ins Lazarett schicken!«
Duncan hörte nicht auf ihn. Er wollte sich nicht schonen, und er tat es auch nicht, obwohl er noch nicht vollständig genesen war. Auch nicht in den nächsten Tagen. Nur schwere körperliche Arbeit hielt seine Gedanken in Schach und übertönte den nagenden Schmerz der Sehnsucht in seinem Inneren.
Er redete wenig. Fragen der anderen Sträflinge, wie er geflohen sei und wieso er Mrs
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