Das Lied der roten Erde (German Edition)
Wilden sich noch im Gebüsch versteckten und was sie im Schilde führten?
Im nächsten Moment stieß das Mädchen einen durchdringenden Schrei aus, so schrill und klagend, dass es Alistair kalt den Rücken hinablief. Es hörte sich an wie ein fremdartiger Trauergesang, und für einen Moment überkam ihn die absurde Idee, sie würde O’Sullivans Schmerz hinausschreien.
Fluchtartig trieb er das Pferd an. Ihr Schrei folgte ihm wie ein Fluch.
18.
»Oh, was für eine fürchterliche Vorstellung!« Amelia Zuckerman rollte mit den Augen. »Nicht auszudenken, wenn mir das widerfahren wäre. Wenn so ein Sträfling mit mir – nein, ich mag gar nicht daran denken!«
So, wie ihr Gesicht sich dabei rötete, bezweifelte Moira das. Die dicke Frau war geradezu begierig darauf, jedes noch so kleine Detail der angeblichen Entführung zu erfahren.
»Was hat dieser Verbrecher Euch angetan? Hat er Euch angefasst mit seinen schmutzigen Händen? Hat er …« Sie beugte sich ein wenig vor und senkte die Stimme, »… hat er sich gar an Euch … vergangen?«
»Mrs Zuckerman, bitte.« Moira war erschöpft. Seit die Kutsche dieser lästigen Person heute Nachmittag vorgefahren war, hatte Moira keine ruhige Minute mehr gehabt. McIntyre war nach einer kurzen Begrüßung schon wieder in seinem Studierzimmer verschwunden. Nur für Moira, wurde Mrs Zuckerman nicht müde zu betonen, hatte sie den beschwerlichen Weg nach Toongabbie auf sich genommen – und dann die mitgebrachten Leckereien zum größten Teil selbst verspeist. Jetzt hatte sie sich hier in ihrer Wohnstube festgesetzt. Hätte es nicht der Anstand geboten, Moira hätte sie längst hinauskomplimentiert.
»Mir könnt Ihr Euch doch anvertrauen«, schmeichelte sie. »Ich bin doch auch eine Frau.«
Moira blickte sie an, sah in das erwartungsvolle Gesicht ihr gegenüber am Tisch, die speckig glänzende Haut. »Ich erinnere mich nicht daran, Mrs Zuckerman.«
Amelia Zuckerman zog einen Schmollmund. »Oh, das habt Ihr doch nur so behauptet vor Gericht. Ich verstehe ja, dass Ihr diese widerliche Geschichte nicht in aller Öffentlichkeit ausbreiten wolltet. Aber mir könnt Ihr es doch erzählen. Ich verspreche Euch, ich werde schweigen wie ein Grab.«
Für einen kurzen Moment war Moira versucht, diesem Wunsch nachzukommen. Ihr zu sagen, was zwischen ihnen war, ihr von den rauschhaften Begegnungen mit Duncan auf dem Heuboden, den atemlosen Vereinigungen und der gemeinsamen Flucht zu erzählen. Dann ballte sie die Fäuste unter dem Tisch, zwang sich zur Ruhe und blickte durch das geöffnete Fenster hinaus auf den Weg, wo Dr. Wentworths drei Söhne übermütig Fangen spielten. Die Sonne glänzte auf den hellen Scheiteln der Kinder. William, John und D’Arcy junior.
Moira hatte Wentworth angeboten, sich um die drei zu kümmern, wenn er seinen Dienst im Lazarett von Parramatta versah. Sie war dankbar für diese Aufgabe. Es lenkte sie von ihren trüben Gedanken ab und brachte etwas Sinn in ihr Leben. Denn zurzeit existierte sie einfach nur. Lebte bloß von heute auf morgen, von dieser bis zur nächsten Stunde, von jetzt auf später. Denn nicht einmal July tauchte auf. Anfangs hatte Moira noch jeden Tag nach ihr Ausschau gehalten, aber inzwischen hatte sie es aufgegeben. Das Mädchen blieb verschwunden.
Während sie zusah, wie William seinen jüngsten Bruder auf den Rücken nahm, stieg die Erinnerung an ihr eigenes totes Kind in ihr auf. Das winzige, nicht lebensfähige Würmchen, Frucht einer Liebe, die nicht sein durfte. Tränen trübten ihren Blick. Sie hob die Hand, um sie wegzustreichen, und spürte Mrs Zuckermans Finger auf ihren.
»Oh, Ihr Ärmste! War es so schlimm? Hat dieser Verbrecher Euch weh getan? Sprecht es Euch von der Seele.«
»Wie gesagt, Mrs Zuckerman, ich erinnere mich nicht.«
Wie sie es hasste, lügen zu müssen! Wie sie es verabscheute, nicht jedem, der es wissen wollte, die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern und erzählen zu können, wie es wirklich gewesen war. Stattdessen musste sie hier sitzen, die sittsame Ehefrau spielen und Leute wie Mrs Zuckerman ertragen, die nur ihre Sucht nach Klatsch und Tratsch befriedigen wollten. Niemand fragte sie, wie es ihr wirklich ging. Niemandem konnte sie erzählen, dass die Sorge um Duncan sie auffraß. Dass sie nicht schlafen konnte, weil sie ständig die Bilder jener entsetzlichen Bestrafung vor sich sah. Fünf Tage lag das jetzt zurück. Nach ihrem Zusammenbruch
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