Das Lied der roten Erde (German Edition)
das feuchte, blutige Stück Stoff wieder ein.
»Die körperliche Züchtigung wird abgebrochen«, wandte er sich an Major Penrith. Ein leichtes Zittern wollte sich in seine Stimme einschleichen; er bemühte sich, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. »Weitere Schläge kann ich aus ärztlicher Sicht nicht verantworten.«
Zu seiner Überraschung nickte der Major. »Notiert, Sergeant«, sagte er zu dem Soldaten mit der Schiefertafel. »Auf Anweisung von Dr. McIntyre bei zweihundertsechsundzwanzig Schlägen abgebrochen.« Alistair glaubte ein boshaftes Lächeln zu sehen. »Damit stehen noch vierundsiebzig aus. Weg mit ihm!«
Die Menge begann sich zu zerstreuen. Die beiden Schergen banden O’Sullivan los, packten ihn unter den Armen und schleiften ihn zu einem Karren, der nicht weit entfernt stand. Alistair nahm O’Sullivans Hemd auf und folgte ihnen, sah zu, wie sie den blutigen Körper auf die Ladefläche warfen. Das Gefährt war von ähnlicher Bauart wie jenes, das die beiden Ehebrecher auf ihrer Flucht verloren hatten. Um den Karren war es ihm egal, aber er bedauerte den Verlust seiner Arzttasche, die sich darauf befunden hatte.
Er trat zu dem schmächtigen Sträfling, der abfahrbereit auf dem Kutschbock saß.
»Ich fahre«, sagte er knapp und schickte den Mann fort.
»Sieh an, sieh an«, hörte er dann die Stimme des Majors, als er gerade auf den Kutschbock stieg. »Lasst Ihr jedem dieser Bastarde solch eine Fürsorge angedeihen? Oder nur diesem hier?«
»Ich muss ohnehin ins Lazarett«, gab Alistair schmallippig zurück. »Entschuldigt mich, Major.« Er gab dem Pferd die Zügel und fuhr los, den Blick des Majors wie ein Pfeil in seinem Rücken.
Kurz hinter Toongabbie, wo die Straße nach Parramatta abbog, fuhr er einen kleinen Seitenweg hinein, wendete und hielt dann an. Unter dem Sitz holte er eine Wasserflasche hervor, stieg herunter und dachte gerade noch daran, das Pferd anzubinden, bevor er nach O’Sullivan sah.
Der junge Sträfling lag bäuchlings, den Kopf zur Seite, die Augen geschlossen, auf den hölzernen Bohlen des vierrädrigen Karrens. Alistair blickte auf den zerschundenen Rücken und versuchte, nur Arzt zu sein. Keine Gefühle zuzulassen, weder Genugtuung noch Mitleid. Oder gar etwas anderes.
Ein leichter Wind wehte und bog das hohe Gras am Straßenrand. Alistair kletterte auf den Karren und griff nach O’Sullivans Hemd. Als er den Stoff unter den Kopf des jungen Mannes schob, bewegte dieser sich und stöhnte. Nein, er murmelte etwas. Alistair beugte sich weiter vor.
»… Flügel … wie Tauben …«, konnte er jetzt verstehen. »dass ich wegflöge …«
War das nicht ein Psalm aus der Bibel? Hatte das Fieber ihn jetzt schon im Griff? Aber seine Haut war kühl, nur feucht von Schweiß und Blut.
Er öffnete die Wasserflasche und setzte sie O’Sullivan an die Lippen, doch das Wasser versickerte zwischen den Brettern. So würde es nicht gehen. Alistair formte seine rechte Hand zu einer Kuhle, ließ Wasser hineinlaufen und bot es O’Sullivan dar, so wie man einen Hund trinken ließ. Und fast wie ein Tier trank der junge Sträfling aus seiner Hand, durstig, gierig, bevor er wieder zusammensank. Noch immer wirkte er wie weggetreten. Ob dieser Zustand länger anhalten würde? Besser wäre es. Im Lazarett würden ihm noch genug Schmerzen bevorstehen.
Alistair blickte sich verstohlen um. Niemand war zu sehen, und von der Straße aus war er auch nicht zu entdecken. Langsam hob er die Hand und legte sie auf O’Sullivans Kopf, ging tiefer, dorthin, wo die dunkelbraunen Haare schweißnass im Nacken klebten. Eine Strähne hatte sich in einer blutigen Strieme verfangen. Alistair griff vorsichtig danach, befreite sie und legte seine Hand wieder auf die feuchte Haut.
Ein paar Augenblicke lang gönnte er sich die Wohltat dieser Berührung, überließ sich der Erregung, die dabei in ihm aufstieg, dann zog er seine Hand zurück. War da jemand? Erneut blickte er sich um, und diesmal war er sicher, dass ihn jemand beobachtete.
Dann sah er sie. Eine kleine dunkle Gestalt, halb verborgen vom Gebüsch. War das nicht die kleine Wilde, an der Moira so hing? Dann war der helle Fleck daneben sicher der räudige Dingo.
Alistair nahm die Wasserflasche wieder an sich. Er eilte nach vorne zum Kutschbock und wedelte dabei mit den Händen, um das Mädchen zu verscheuchen. Eine unbestimmte Furcht hatte ihn ergriffen. Wer konnte schon wissen, wie viele dieser
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