Das Lied der roten Erde (German Edition)
überfiel sie schlagartig und trieb ihr den Schweiß aus allen Poren, und dabei war es noch früher Morgen. Über den freien Platz, an den ihre Veranda grenzte, konnte sie auf das langgestreckte Gebäude des Kutschenhauses sehen. Nachts waren dort auch die Pferde untergebracht, um zu verhindern, dass die Eingeborenen sie mitnahmen. Schallendes Gelächter ertönte von irgendwo aus dem Busch und ließ sie schmunzeln. Es war der Kookaburra, ein Vogel, der auf diese Weise den Morgen begrüßte. Ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel spannte sich über Toongabbie und schien der Bedeutung dieses Ortes als Straflager Hohn zu sprechen. Hinter den Sträflingshütten konnte sie die riesigen, mittlerweile abgeernteten Felder sehen. Auf dem fruchtbaren Boden wurde Mais, Weizen und Gerste angebaut – genug, um auch Sydney und Parramatta zu versorgen. Auf einer großen Weidefläche hielt man Vieh sowie etliche Ziegen und Schweine. Dahinter begann der Busch, wie man hier das waldige Gebiet nannte. Dort würden die Sträflinge auch heute wieder arbeiten, um weiteren Boden urbar zu machen. Moira hörte die Rufe der Aufseher und sah, wie die Sträflinge sich zu einer langen Kolonne aufstellten.
Ihr Blick kehrte zurück zu dem fremden Mädchen, dann gab sie sich einen Ruck und ging auf das Kind zu, langsam, um es nicht zu verängstigen. Aber das schien eine unbegründete Befürchtung zu sein. Es stand ganz ruhig da, ohne einen Ton zu sagen, ohne sich zu bewegen. Auch das Gesicht mit der breiten Nase und der geschwungenen Oberlippe war reglos. Nur die Augen beobachteten Moira.
Die Hautfarbe des Mädchens war nicht ganz so dunkel wie bei den männlichen Eingeborenen, die Moira bisher gesehen hatte, eher von einem hellen Karamellbraun. Bis auf eine schmale Schnur um die Hüfte war sie unbekleidet. An ihren bloßen Füßen sah Moira Erdkrümel und Staub.
Als Moira nur noch zwei Schritte entfernt war, blieb sie stehen. Noch immer fixierten sie diese ruhigen, kohlschwarzen Augen. Jetzt erst bemerkte Moira, dass das Mädchen nicht allein war; neben ihr, fast völlig in den Schatten eines Strauches getaucht, saß ein hundeähnliches, sandfarbenes Wesen. Dingos nannte man diese Tiere, hatte Moira von einem Nachbarn erfahren.
Das Mädchen mochte um die elf, zwölf Jahre alt sein. Ihre Figur war knabenhaft schlank und wies noch nicht die runden Formen einer Frau auf; die Brüste begannen gerade erst, sich zu entwickeln. Ihr dichtes, lockiges Haar hatte tatsächlich fast dieselbe Farbe wie das Fell des Dingos: ein dunkles, ins Gold gehende Blond.
»Guten Morgen«, sagte Moira, plötzlich schüchtern. »Wie heißt du?«
Das fremde Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln und entblößte dabei zwei Reihen strahlend weißer Zähne.
»Lebst du hier?«, versuchte Moira es erneut. Das Mädchen war sicher nicht alleine gekommen. Womöglich war ihr Stamm, ihre Familie, ganz in der Nähe.
Wieder ein Lächeln, mehr nicht. Offensichtlich verstand die Kleine sie nicht.
Moira deutete mit übertriebener Geste auf sich selbst. »Moira.« Dann wies sie fragend auf das Kind.
Statt einer Antwort griff das Mädchen an die Schnur, die es um die schmale Taille trug, löste ein kleines Tier davon ab und reichte Moira den Kadaver einer kleinen Echse mit dickem, grün und braun gestreiftem Schwanz. Das Tier war noch warm in ihrer Hand. Das Mädchen führte die Hand zum Mund, als würde es essen.
»Ein Geschenk? Zum Essen? Oh – danke.« Moira versuchte, das tote Tier möglichst unauffällig von sich wegzuhalten. Das Mädchen würde doch hoffentlich nicht erwarten, dass sie das Tier hier und jetzt verspeiste?
»Also.« Moiras Stimme klang ihr seltsam laut in den Ohren. »Einen Namen brauchst du. Was hältst du davon, wenn ich dich … wenn ich dich July nenne?«
Der Name war ihr spontan eingefallen, vermutlich wegen der extremen Hitze, die sie eher mit Monaten wie Juli oder August verband. »July, in Ordnung?«
Das Kind sah an ihr vorbei. Moira folgte seinem Blick und sah, dass die Kolonne der Sträflinge verschwunden war. Als Moira sich wieder umwandte, hatte das Unterholz das Mädchen und den Dingo verschluckt.
Moira ging zurück zum Haus und legte die tote Echse neben die Veranda; Ann würde sie später beseitigen. Sie schloss die Tür und stand eine Weile im Flur, unschlüssig, was sie nun tun sollte. Es war alles so still. Fast leblos, ausgestorben.
Dann hörte sie ein leises, kratzendes
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