Das Lied der roten Erde (German Edition)
wenigstens etwas Erfrischung gebracht hatte. Die Fenster waren geöffnet, die hellen Gardinen zugezogen.
Ann hatte einen Berg Wäsche vor sich und flickte mit Hingabe ein Loch in McIntyres Hemd. Seit der geglückten Abtreibung brachte Ann dem Doktor eine fast abgöttische Verehrung entgegen. Obwohl sie noch immer zusammenzuckte, wenn er den Raum betrat, versuchte sie, seine Wünsche zu erfüllen, noch bevor er sie ganz ausgesprochen hatte. Wenn sie das Essen auftrug, suchte sie ihm das saftigste Stück Fleisch, die größte Scheibe Brot heraus, und seiner Kleidung ließ sie eine besonders sorgfältige Pflege angedeihen.
Auch Moira war mit einer Handarbeit beschäftigt. Sie bestickte lustlos ein Kissen, um überhaupt etwas zu tun zu haben. Der Stoff fühlte sich unter ihren Händen unangenehm warm und feucht an, und die Nadel klebte ihr an den Fingern. Als sie gerade einen neuen Faden einfädeln wollte, hörte sie von draußen eine männliche Stimme; Wilkins, einer der Aufseher.
Gleich darauf pochte es an der Tür. Es war selten genug, dass jemand zu ihnen kam, und sie musste sich zurückhalten, nicht sofort aufzuspringen, um zu öffnen. Dafür hatten sie schließlich Ann, auch wenn diese bloß furchtsam aufsah und nur durch einen Wink von Moira dazu zu bewegen war, zur Tür zu gehen.
Ann kam schnell zurück, knickste und murmelte etwas. Noch immer war ihre Stimme so leise, dass Moira Mühe hatte, sie zu verstehen.
»Wie bitte? Ann, sprich lauter!«
»Ma’am, ein … ein verletzter Sträfling braucht die Hilfe von Dr. McIntyre. Er hat sich ins Bein gehackt.«
Moira trat einen Schritt ans Fenster und schob unauffällig die Gardine zur Seite. Vor der Veranda standen drei Männer – der Aufseher und zwei Sträflinge. Um den Unterschenkel des einen war ein blutiger Fetzen gewickelt. Den anderen, der ihn stützte, erkannte Moira sofort wieder: Es handelte sich um den jungen Sträfling, der ihr schon auf der Minerva aufgefallen war.
»Ich gebe dem Doktor Bescheid«, sagte sie zu Ann und ließ die Gardine langsam sinken. Wieso war sie plötzlich nur so kurzatmig, als wäre sie gerannt?
McIntyre war in seinem Studierzimmer. Moira klopfte, hörte das Rascheln von Papier, dann öffnete er. Seine Augen hinter dem Drahtgestell seiner Brille blinzelten. Abgestandene, warme Luft schlug ihr entgegen. Was trieb er nur den ganzen Tag in diesem engen, ungelüfteten Raum?
»Ihr habt einen Patienten«, erklärte sie. »Einen Sträfling.«
McIntyre nickte, verschloss die Tür von außen und zog den Schlüssel ab. Er ging vor und öffnete die Tür zum Behandlungszimmer, dann trat er auf die Veranda. Moira blieb in der Haustür stehen.
Drei Augenpaare wandten sich ihnen zu. Der Verletzte hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten und stützte sich schwer auf seinen Gefährten. Beide waren mit gelblichem Staub bedeckt, durch die der Schweiß Rinnen zog, und trugen mit einer kurzen eisernen Kette verbundene Handfesseln.
»Was ist passiert?«, fragte McIntyre und kämpfte mit einem Knopf, der sich an seiner Weste geöffnet hatte.
Aufseher Wilkins, ein kahlköpfiger, vierschrötiger Mann, deutete auf den Verletzten. »Sir, Henderson war so dämlich und hat sich die Hacke ins Bein geschlagen. Ich hoffe, Ihr bekommt ihn wieder hin.« Er wandte sich an den Verwundeten. »Falls du glaubst, so der Arbeit zu entgehen, dann hast du dich getäuscht, du nichtsnutziger Bastard!«
»Es war ein Unfall«, wandte der andere Sträfling ein. »Er hat nur –«
»Wer hat dir erlaubt zu reden?«, fuhr ihn der Aufseher an und hob seinen Schlagstock. Moira holte erschrocken Luft.
»Nicht in meinem Haus!«, ging McIntyre streng dazwischen. »Bringt lieber den Verletzten hinein.«
»Ich? Nein, Sir, ich mache mir doch nicht die Hände an diesem Abschaum schmutzig. He, O’Sullivan, schaff ihn rein! Und dann sofort wieder raus mit dir!«
Moira trat einen Schritt zur Seite, damit O’Sullivan seinen humpelnden Kameraden ins Haus bringen konnte. Als er eintrat, schlug ihr der Geruch von Holz, Erde und frischem Schweiß entgegen, und sie hatte den Eindruck, als würde er einen winzigen Moment zögern, bevor er an ihr vorüberging. McIntyre und der Aufseher folgten ihnen.
Moira kehrte zurück in die Wohnstube und stand einige Augenblicke gedankenverloren im Raum. Ihre Handarbeit lag achtlos auf einem Stuhl, und sie hatte so gar keine Lust weiterzusticken. Sie hörte Schritte auf der
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