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Das Lied der roten Erde (German Edition)

Das Lied der roten Erde (German Edition)

Titel: Das Lied der roten Erde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inez Corbi
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verbrannte Erde. Sie musste blinzeln. Als sie wieder hinsah, war alles wieder so wie vorher.  
    Die Gruppe ging jetzt an ihr vorbei, so nah, dass sie den Schweiß der Männer riechen konnte. Ningali verharrte regungslos unter den großen, dunklen Blättern eines Terpentinenbaums. Sie wusste, dass man sie nicht sehen würde. Die Weißen sahen nie etwas.  
    Die Mütter und Tanten hatten ihr Geschichten erzählt von den Tagen vor Ningalis Geburt, als die Weißen zum ersten Mal im Land der Traumzeit eintrafen. Die Eora hatten sie für Geister der Toten gehalten, die in ihr altes Land zurückkehrten, sie willkommen geheißen und Zeremonien abgehalten, um ihnen den Weg dorthin zurück zu weisen, wo die Verstorbenen leben. Doch sie hatten sich geirrt. Die Zeremonien brachten die weißgesichtigen Menschen nicht ins Reich des Todes. Sie blieben und begannen, das Land zu verändern.  
    Die Gruppe war fast an ihr vorüber, als einer der Männer den Kopf wandte. Für einen Augenblick glaubte Ningali, er habe sie bemerkt. Mehr noch: Er schien ihr direkt ins Gesicht zu sehen, mit Augen von ähnlichem Grün wie der Wald bei Dämmerung.  
    Sie senkte verwirrt den Blick. Sie kannte diesen Mann nicht, und doch hatte sie das starke, das fast unbezwingbare Gefühl von Vertrautheit. War er ein Wesen aus der Traumzeit, einer der Ahnengeister, der sich in menschlicher Gestalt zeigte?  
    Unschlüssig sah sie der Gruppe hinterher, die sich von ihr entfernte, und zog sich dann zurück, tiefer in den Wald. Sie würde das Träumen und die Ahnen befragen.  

5.  
     
    »Die kleine Wilde ist ja schon wieder da!« McIntyre blickte missbilligend über den Rand seiner Brille aus dem Fenster.  
    Moira hob ebenfalls den Blick und sah hinaus. Wo die Wildnis anfing, nur einen Steinwurf vom Haus entfernt, konnte man die Gestalt eines dunkelhäutigen Mädchens erkennen. Sie war unbekleidet, und ihr Haar schien zu Moiras Erstaunen golden zu schimmern. Vor ein paar Tagen hatte sie sich mit William Penrith – dem »netten Penrith«, wie Moira den Lagerverwalter insgeheim nannte – über die Eingeborenen unterhalten. Diese, hatte er erzählt, hausten in den Wäldern, als schwarze Schatten in der Wildnis, die jederzeit kamen und gingen. Für viele Siedler waren sie ein Ärgernis, da sie ihnen den mühsam angebauten Mais oder Kartoffeln stahlen. Dabei war es wohl kein Stehlen im eigentlichen Sinn. Sie hatten lediglich keinen Begriff von Eigentum und nahmen sich, was die Natur ihnen bot. Manche kamen sogar zu den Häusern der Weißen und erbaten Lebensmittel – nie, als würden sie es brauchen, sondern stets, als wäre es ein Geschenk, das sie huldvoll annahmen. Aber tief in den Wäldern gab es angeblich auch feindliche Eingeborene, die schon Siedlungen der Weißen überfallen hatten.  
    McIntyre wandte sich kopfschüttelnd wieder den Papieren zu, mit denen der halbe Frühstückstisch übersät war und die für Moira unverständliche Kritzeleien enthielten. Erneut blickte sie zu der bewegungslosen Gestalt hinüber, die fast jeden Morgen hier erschien.  
    Hier, das war Toongabbie. Der Name kam aus der Sprache der Eingeborenen und bedeutete »Platz am Wasser«. Da die sandige Erde von Sydney keine Landwirtschaft zuließ, wie die ersten Siedler bald hatten feststellen müssen, hatte man gut fünfzehn Meilen westlich im Landesinneren neue Siedlungen gegründet. Über den Fluss hinweg sah man die Sträflingsunterkünfte, einfache Hütten aus Flechtwerk und Lehm, strohgedeckt und mit einem gemauerten Kamin, die sich in zwei Reihen entlang einer staubigen Straße erstreckten. An die dreihundert Häftlinge waren dort untergebracht. Auf der hiesigen Seite des Flusses erhoben sich Lagerhäuser und Vorratsschuppen, die Hütten der Aufseher und die Wohnhäuser ihrer Nachbarn, zumeist aus Holzbohlen hergestellt. Andere Häuser standen weiter außerhalb. Dort hatte man den Bewohnern, größtenteils ehemaligen Sträflingen, ein Stück Land überlassen. Die meisten dieser Besitzungen umfassten nur an die dreißig Morgen, doch manche Farmen in der Kolonie, die freien Siedlern gehörten, waren weitaus größer.  
    Zu McIntyres Aufgaben zählten regelmäßige Besuche im Lazarett von Parramatta sowie die Versorgung der Bewohner und Sträflinge Toongabbies. Daher enthielt das Haus, das Moira und ihm zur Verfügung stand, neben den Wohnräumen auch ein Behandlungszimmer. Es war ein weiß gestrichener, einstöckiger Ziegelbau, dessen Zimmer nur mit dem Notwendigsten

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