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Das Lied der roten Erde (German Edition)

Das Lied der roten Erde (German Edition)

Titel: Das Lied der roten Erde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inez Corbi
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    Duncan schlug die Augen auf. Was war es, das ihn geweckt hatte? Er lauschte in die Nacht hinein, nach dem todesähnlichen Schlaf der Erschöpfung plötzlich hellwach. Seine Sinne waren angespannt wie die eines Tieres auf der Jagd. Die Dunkelheit war erfüllt von Tausenden Geräuschen; dem Zirpen einer Grillenschar, den entfernten Rufen fremder Nachttiere, dem Rauschen des Windes im Strohdach und dem Schnarchen der achtzehn anderen, die mit ihm in dieser Hütte lebten. Er horchte erneut, dann entspannte er sich wieder. Da war nichts. Er konnte weiterschlafen.  
    Doch der Schlaf wollte sich nicht wieder einstellen. Jeder Knochen in seinem Leib schmerzte, und sein Magen knurrte. Kein Wunder bei diesen mageren Rationen: pro Tag und Sträfling ein Pfund Pökelfleisch und ein Pfund Mehl aus Weizen oder Mais, aus dem sie damper herstellten, ein einfaches Brot, das man in der Asche des Herdfeuers buk. Zu trinken gab es nur Wasser und sonntags vielleicht einen kleinen Becher Rum.  
    Um sich von dem bohrenden Hungergefühl in seinen Eingeweiden abzulenken, begann Duncan, lautlos einen Rosenkranz zu beten, so, wie Vater Mahoney es ihn gelehrt hatte. Der eintönige Rhythmus würde ihn hoffentlich müde machen.  
    »Gegrüßet seist Du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit Dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern …«  
    Das Bild einer anderen Frau schob sich vor sein inneres Auge. Das Bild der jungen Mrs McIntyre.  
    Drei Tage lag es nun zurück, dass sie mit ihm gesprochen hatte, und noch immer ließ ihn die Erinnerung an diese Begegnung nicht los. Ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Brust breit, als er daran dachte, wie sie ihm Wasser gebracht hatte. Mrs McIntyre. Dann war sie also nicht die Tochter des Doktors, sondern seine Frau. Er verstand nicht, wieso ihn das so bedrückte. Hatte er ernsthaft geglaubt, er könne sie eines Tages für sich gewinnen? Als Sträfling?  
    Der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen, und dabei brauchte er seine Kraft so dringend für den nächsten Tag. Er drehte sich auf dem harten Boden auf die andere Seite. Vielleicht sollte er es mit Zählen versuchen. Oder mit Rechnen. Wie lange war es noch bis zum Ende seiner Strafe? Seit der Urteilsverkündung waren sieben Monate vergangen – vier Wochen im Gefängnis von Cork, viereinhalb Monate Überfahrt und sechs Wochen hier in Toongabbie. Blieben noch sechs Jahre und fünf Monate. Dann wäre er dreißig. Eine ziemlich ernüchternde Vorstellung.  
    Aber wenn man sich ordentlich benahm und sich nichts zuschulden kommen ließ, standen die Chancen gut, schon vorher freizukommen. Er hatte gehört, dass viele ehemalige Sträflinge vor Ablauf ihrer Zeit begnadigt worden waren und jetzt ihr eigenes Land bebauen durften.  
    Ein eigenes Stück Land. Das war auch Duncans Ziel. Sofern er die nächsten Wochen und Monate überstand. Den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang, mussten sie in der glühenden Hitze Bäume fällen, Wurzelstöcke entfernen, Äste abhacken und den Boden umgraben, nur unterbrochen von einer kurzen Mittagspause. Neben der Hitze, der schweren Arbeit und der mageren Verpflegung machten ihnen auch die Aufseher zu schaffen, meist ehemalige Sträflinge, die ihre neu erworbene Macht mit aller Härte demonstrierten. Wer vor Schwäche umfiel, den trieb ein unbarmherziger Aufseher sofort wieder mit dem Stock an. Vor einigen Jahren musste es noch schlimmer gewesen sein, wie er gehört hatte. Damals waren in Toongabbie nicht selten sieben bis acht Gefangene an einem Tag vor Hunger und Erschöpfung gestorben. Ein Ort des Grauens inmitten prachtvoller Natur.  
    Doch er, Duncan, würde sich daran gewöhnen. Er konnte sich an alles gewöhnen, und wenn es noch so lang dauerte.  
    Was war das? Ein Laut, so fein wie ein Mäusewispern, drang an sein Ohr. Ob das die kleine Schwarze war? Stets stand sie in sicherer Entfernung von den Männern am Rand des Buschs, begleitet nur von ihrem sandfarbenen Dingo. Und immer schien sie nur ihn, Duncan, zu beobachten. Nie die anderen. Denen war sie auch schon aufgefallen. Wilson behauptete, sie hätte es auf Duncan abgesehen. Die Eingeborenen hier seien schließlich alles Wilde, da würden es sicher auch schon die Kinder treiben.  
    Duncan hatte von Sträflingen gehört, die sich mit den Schwarzen einließen. Er hatte nicht vor, irgendetwas mit dem Mädchen anzufangen, und es erfüllte ihn eher mit Trauer als mit Freude, womöglich das Objekt ihrer Begierde zu sein. Sie

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