Das Lied der roten Erde (German Edition)
einer Schlange gebissen worden, was einen kurzen Krampfanfall auslöste. Es geht ihm schon wieder besser. Dr. McIntyre wird sich um ihn kümmern. Bitte, meine Damen, meine Herren, lasst Euch nicht von diesem kleinen Zwischenfall beunruhigen. Geht zurück ins Haus und vergnügt Euch.«
Spätestens bei der Erwähnung der angeblichen Schlange hatten sich auch die letzten Neugierigen entschlossen, in den Salon zurückzukehren.
»Bringen wir ihn ins Haus«, sagte William schließlich.
Als er und O’Sullivan den Major hochhoben, sah Moira, dass dieser sich eingenässt hatte; auf seiner ehemals blütenweißen, enganliegenden Uniformhose war ein großer feuchter Fleck zu sehen.
»Schlange, dass ich nicht lache!«, hörte sie Mrs Zuckerman sagen, als sie durch die Eingangshalle gingen. »Die kleine Wilde hat ihn verhext! Ich habe doch gesehen, wie sie ihn angestarrt hat!«
*
Moira hatte ihr Schultertuch über das feine hellblaue Kleid gelegt und war wieder nach draußen gegangen. Selbst jetzt war es noch frühlingshaft mild, obwohl es doch Winter war. Den Großteil der Fackeln hatte man weggeräumt, nur noch wenige brannten in den Halterungen vor den Schuppen. Die Pferde standen wieder in ihren Ställen, Männerlachen und Stimmen waren aus einer Ecke zu hören. Dort durften sich die Sträflinge über die Reste des Buffets hermachen.
Aus der geöffneten Verandatür drang Tanzmusik. Einige Gäste waren bereits schlafen gegangen; Wentworth hatte dafür Zimmer im Obergeschoss herrichten lassen. Moira hätte sich auch zurückziehen können, aber sie war kein bisschen müde. Nach Tanzen stand ihr allerdings auch nicht der Sinn, ganz abgesehen davon, dass sie nicht gewusst hätte, mit wem sie hätte tanzen können. McIntyre würde noch einige Zeit bei Major Penrith bleiben.
Ein leichter Wind bewegte die Baumwipfel. Ob July noch da war? Vielleicht wartete das Mädchen auf sie, versteckt im Dunkel der Bäume? Moira nahm sich eine der kleinen Laternen, die die Veranda säumten, und ging langsam auf den Waldrand zu.
»July?«, rief sie leise. »July, bist du hier?«
Sie lauschte, vermeinte ein Knacken zu hören.
»July?«
Sie hob den Saum ihres Kleides und ging weiter, hinein in den Wald. Hinter ihr schloss sich das Gebüsch. Kaum hatte sie den erleuchteten Platz vor Wentworths Haus hinter sich gelassen, spürte sie die Veränderung, als wäre sie in eine fremde Welt eingetreten. Der Lichtkegel ihrer Laterne erhellte nur einen kleinen Flecken, dahinter war Wildnis und Dunkelheit. Geräusche erfüllten die Nacht, wie in einem Märchenwald zirpte und raunte es von allen Seiten.
»July?«
Ein Rascheln. Seitlich neben ihr. Oder – nein, es kam von oben. Erschrocken ging sie ein paar Schritte vorwärts. Wie finster und fremd es hier war. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass nur wenige Schritte hinter ihr bewohntes Gebiet war, sie hätte glauben können, völlig allein auf der Welt zu sein.
Wieder ein Rascheln, diesmal hinter ihr. Allmählich wurde es ihr doch unheimlich. Vielleicht sollte sie lieber wieder umkehren, bevor sie sich verlief. Aber sie fühlte sich für das Mädchen verantwortlich, wollte sich vergewissern, dass es ihr gutging.
»July?«
»Sie ist nicht mehr da.«
Moira fuhr herum, als sie hinter sich eine Männerstimme hörte. Dann erkannte sie den Sprecher und seufzte erleichtert auf. Erleichtert und ein wenig aufgeregt. »Ihr seid es! Ich dachte schon, es wäre …«
»Ein Tiger?« Ein Lächeln huschte über O’Sullivans Züge.
»Natürlich nicht. Tiger leben in Indien und sprechen eher selten.« Sie leuchtete ihm ins Gesicht. »Was tut Ihr hier?«
»Ich bin Euch gefolgt.« Er hob geblendet die Hand.
»Das wird allmählich zu einer Angewohnheit von Euch«, gab Moira lächelnd zurück und senkte die Laterne. »Ich bin so froh, dass July wieder aufgetaucht ist. Als der Major auf sie geschossen hat …« Sie ließ offen, was sie sagen wollte.
»Der Major ist ein gefährlicher Mann. Selbst wenn er am Boden liegt. Tut es noch weh?«
»Was denn?«, fragte Moira verwirrt.
»Wo er Euch getreten hat. Es sah ziemlich schmerzhaft aus.«
»Oh, das … nein, nein … allerdings werde ich wohl einen blauen Fleck bekommen.« Sie lachte auf, etwas zu nervös, wie sie fand. »Mrs Zuckerman glaubt, July hätte den Major verhext.«
Er lachte nicht. »Glaubt Ihr das auch?«
»Nein, aber – nun, es sah doch wirklich so aus, als
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