Das Lied der roten Erde (German Edition)
das verwaschene Durcheinander, das er bisher gesehen hatte.
O’Sullivan hatte ihn heute enttäuscht. Trotz seines Eifers war es ihm wohl nie um den wissenschaftlichen Fortschritt gegangen, sondern nur um seine Begnadigung. Der zornige Blick aus dunkelgrünen Augen hatte Alistair für einen Moment hinter die Fassade scheinbaren Gleichmuts sehen lassen – und ihm Angst gemacht. Das also waren O’Sullivans wahre Gefühle. Man durfte den Katholiken nicht vertrauen. Das Aufrührerische steckte diesen Menschen im Blut. Und O’Sullivan war schließlich wegen Rebellion verurteilt worden. Vielleicht hatte der Major doch nicht ganz unrecht mit seinen Verdächtigungen.
»Sir!« Eine helle Stimme ertönte neben dem Geplätscher des Regens und den Fahrgeräuschen. »Dr. McIntyre, Sir!«
Er blickte auf. Durch den strömenden Regen sah er eine verhüllte Gestalt, die neben seinem Karren herrannte.
»Sir«, rief sie erneut, und jetzt erkannte er Ann. »Sir, bitte!«
Mürrisch zügelte er das Pferd. »Was ist jetzt schon wieder?« Das närrische Ding raubte ihm in letzter Zeit oft die Geduld. Aber man musste behutsam mit ihr umgehen, schließlich hatte der Major ihr bei dem missglückten Versuch mit dem Röhrchen ziemlich zugesetzt.
Sie war völlig außer Atem, die nassen Haare klebten ihr strähnig am Kopf. In ihrem Unterkiefer konnte er die neue Zahnlücke erkennen. Er hatte mehrere Tage gebraucht, bis er sie so weit gehabt hatte, dass er ihr zumindest einen von zwei schadhaften Zähnen hatte ziehen können.
»Gott sei Dank, Sir!« Sie knetete ihre Hände, dann verzog sie das Gesicht und begann zu weinen.
»Jetzt hör schon auf, Mädchen!« Weinende Frauen konnte er nicht ausstehen. »Sag mir sofort, was los ist!«
Ann richtete sich auf, das Gesicht nass von Tränen und Regen. »Sir, Ihr … Eure Frau … sie … sie …«
»Moira? Was ist mit ihr?« Aus diesem Gestammel konnte ja kein Mensch klug werden. »Ist etwas passiert? Wo ist sie?«
Ann blickte ihn bebend an, dann deutete sie unbestimmt hinter sich. »Im Kutschenhaus«, schluchzte sie. »Auf dem Heuboden. Schnell!«
*
Das leise Trommeln des Regens hüllte sie ein wie eine schützende Decke. Der Raum unter dem hölzernen Dach des Kutschenhauses mit seinem Bett aus Stroh war ihrer beider Refugium, ihr Rückzugsort von der Welt. Noch nie hatte jemand nach Duncan verlangt, wenn er mit Moira hier oben war. In diesem Fall, so hatten sie vereinbart, würde er einfach hinunterklettern, während sie sich mucksmäuschenstill verhalten und so lange warten würde, bis sie ungesehen verschwinden konnte.
Moira liebte es, neben ihm in den warmen Halmen, deren Duft sie an die glücklichen Tage ihrer Kindheit erinnerte, zu liegen. Selbst heute. Eigentlich wollte sie ihm ihre Befürchtung mitteilen, sie könnte schwanger sein. Aber jetzt war nicht der passende Moment. Sie hatte Duncan noch nie so wütend gesehen.
»Soll ich mit McIntyre reden? Vielleicht hört er auf mich?« Sie bezweifelte es, aber sie wollte es wenigstens anbieten.
»Nein.« Duncan warf eine Handvoll Stroh in die Luft. »Ich kann schon noch für mich selbst reden.«
Moira drehte sich auf die Seite. Ein vages Schuldgefühl über die eigene Erleichterung regte sich in ihr. Denn was würde aus ihr und Duncan werden, wenn er tatsächlich begnadigt werden würde? Würde er zurückkehren nach Irland? War das überhaupt möglich?
»Willst du etwas Kuchen haben?« Ann hatte Früchtekuchen gebacken, von dem Moira ihm ein Stück mitgebracht hatte. »Oder eine Scheibe Schinken …?«
Es war zu einem galligen Scherz zwischen ihnen geworden. Duncan verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. Noch immer wussten sie nicht, wer den Schinken im Kutschenhaus aufgehängt hatte. Wer immer Duncan hatte schaden wollen, musste den Moment abgepasst haben, als er fortgeschickt worden war.
»Später vielleicht.«
Moira zuckte die Schultern, räumte den kleinen Packen hinter einen aufgetürmten Strohhaufen und schmiegte sich mit einem wohligen Seufzer wieder an ihn. Es war schön, einfach nur hier neben ihm zu liegen und dem Regen zuzuhören, der laut und gleichmäßig auf das Dach über ihnen prasselte.
Dann spürte sie, wie sich Duncans Körper straffte. Er setzte sich auf. »Was war das?«
Auch Moira horchte. »Es ist nichts. Nur der Regen.« Sie zupfte an seinem Ärmel.
Duncan lauschte noch einen Moment, alle Glieder angespannt wie eine
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