Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
sehen, auch wenn sein Gesicht verschattet war. Und das kleine Mädchen hatte ein blaues Kleid angehabt und ein gelbes Haarband. Und sie hatte das dunkle Grün der Pinien gesehen und das graue Kleid der Frau.
Aber warum träumte sie wieder von der Vergangenheit, von einer Zeit, die schon so lange zurücklag? Von Namen und Szenen, die für sie keinerlei Bedeutung hatten? Sie träumte häufig und wusste, dass diese nächtlichen Abenteuer für gewöhnlich keinen Sinn machten. Aber dieser Traum ging über das Gewöhnliche hinaus, und sie wollte wissen, warum.
Die Frau. Die roten Haare. Eine Erkenntnis stieg in ihr auf. Sie setzte das Glas Milch ab, das sie sich eingeschüttet hatte, und ging in den Wintergarten. Wo hatte sie die Zeichnung hingetan?
Einige Minuten durchsuchte sie die Unordnung, die sie geschaffen hatte, seit sie sich wieder mit der Malerei beschäftigte. Frustriert seufzte sie auf, weil sie die Zeichnung des Gesichts, das sie im Fenster bei Nan Duncan gesehen hatte, nicht finden konnte. Sie war sich sicher, dass es dieselbe Frau wie in ihrem Traum gewesen war. Ihre Verwirrung stieg noch, als sie zur Staffelei ging, um sich das Gemälde anzusehen.
Oft schon hatte sie davor gestanden und sich angesehen, was damit geschehen war, hatte versucht, das Rätsel zu lösen, versucht, sich daran zu erinnern, ob sie das vielleicht gemalt hatte. Simon wollte das Bild vernichten, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund wollte sie das nicht. Tief im Inneren wusste sie, obwohl sie es nicht erklären konnte, dass es einen Grund dafür gab, und sie betete – etwas, was sie selten tat –, dass die Absicht nicht die war, sie in den Wahnsinn zutreiben.
Bei dem Gedanken daran musste Jessica lächeln. Simon hatte ihr erzählt, dass Marcus morgen kommen wollte, um mit ihr zu reden. Genau wie Simon glaubte er wohl auch, dass sie geistig etwas verwirrt war. Die Beweise, musste sie zugeben – das Bild und die anderen Ereignisse –, unterstützten diese Vermutung allerdings stark.
Im Unterbewusstsein nahm sie wahr, dass es kühl geworden war, und schloss die Fenster des Wintergartens. Außerdem roch es ganz schwach nach etwas Süßem. Sie hatte es schon zuvor gerochen, konnte sich aber nicht daran erinnern, wo es gewesen war. Sie musste gähnen und hielt sich die linke Hand vor den Mund. Sie sollte ins Bett gehen. Doch stattdessen ging sie, als ob sie nicht anders konnte und keine Kontrolle über ihre Bewegungen hatte, zu dem Tisch mit ihren Malutensilien. Sie nahm einen Pinsel und dann eine Tube weißer Farbe, drückte etwas davon auf die Palette, mischte sie mit Ocker an und begann, die Farbe auf das Bild aufzutragen.
Simon fand Jessica am Morgen im Wintergarten, im Sessel zusammengerollt schlafend. Entspannt, die kastanienbraunen Haare lose um das Gesicht, sah sie sehr friedlich aus. Fast wollte er sie einfach in Ruhe lasse, als er plötzlich Farbspuren auf ihren Fingerspitzen entdeckte. Er betrachtete das Gemälde und stellte fest, dass ein weiteres Gesicht vollendet worden war.
»Mein Gott!«, stieß er erschrocken hervor. Nicht schon wieder!
Das Gesicht des Mannes konnte bestenfalls als schlicht bezeichnet werden. Die Haut war gerötet, das Haar hatte die Farbe nassen Sandes, er hatte Knopfaugen und war unrasiert. Wie der erste Mann trug auch er eine rote Uniformjacke mit einem einzelnen diagonalen Lederstreifen.
Er zog eine Grimasse und schüttelte Jessica an der Schulter, bis sie sich rührte. »Jessica, wach auf!«
Sie streckte sich und stöhnte leise, als sie ihre Glieder auseinanderfaltete. Dann fiel ihr Blick auf Simon, der bereits fertig angezogen war. »Ich muss wohl hier eingeschlafen sein«, stellte sie überflüssigerweise fest und stand auf, um in die Küche zu gehen. »Ich mache uns Frühstück, ich habe riesigen Hunger.«
»Jess, bevor du gehst, sieh dir das an«, meinte Simon und wies auf die Staffelei.
Jessica stellte sich vor das Gemälde, legte den Kopf schief und betrachtete es verwirrt. Ein weiteres Gesicht war vollendet worden. Sie sah auf ihre Finger, sah die Farbspuren daran und runzelte die Brauen. O nein, es konnte doch nicht sein, dass sie das getan hatte und sich nun abermals nicht daran erinnerte? Doch während sie das Bild anstarrte, erkannte sie plötzlich das Gesicht des Mannes. O Gott, sie hatte es in ihrem Traum gesehen!
»Das ist Thomas, Thomas Dowd«, sagte sie leise.
Simon starrte sie an, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Wie bitte? Wer soll das
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