Das Lied der Sirenen
Carol zu. Mit der Hartnäckigkeit, die ihm zu seinen Beförderungen verholfen hatte, fragte er: »Ich habe doch recht, oder? Und er muß nicht nur Zugang zu diesem Leder gehabt haben, er muß auch wissen, wie selten es ist.«
»Richtig«, sagte Carol.
»Es ist also keine Zeitverschwendung, wenn wir versuchen, seine Herkunft rauszufinden, oder?«
»Ich habe nie behauptet, es sei Zeitverschwendung«, antwortete Carol geduldig. »So, und jetzt erzählst du mir mal, was mit Tom Cross passiert ist, oder muß ich es unserem Mörder nachmachen und mein Folterwerkzeug rausholen?«
Während Kevin berichtete, was geschehen war, wandte Merrick seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Er hatte die Geschichte schon oft genug gehört. Er lehnte sich an die Bar und beobachtete die anderen Gäste. Das Sackville Arms war nicht der zum Dezernat in der Scargill Street nächstgelegene Pub, aber es gab hier Tetleys aus Yorkshire und Boddingtons aus Manchester, beides vom Faß, und das machte ihn unausweichlich zum Polizistenlokal. Der Pub lag in der Randzone von Temple Fields, und das hatte ihm, als die Mordkommission noch fest in der Scargill Street untergebracht war, eine zusätzliche Attraktion bei den Polizeibeamten verschafft. Diese Lage erlaubte es, daß Prostituierte und kleine Gauner, die ihrem Vertrauensmann bei der Polizei ein paar Informationen zuflüstern wollten, es hier unauffällig tun konnten. Aber in den paar Monaten, seit sie von der Scargill Street weggezogen waren, hatten sich im Pub einige Veränderungen ergeben. Die Stammgäste hatten sich daran gewöhnt, den Pub für sich zu haben, und es herrschte inzwischen eine spürbare Distanz zwischen den Polizisten und den anderen Gästen. Die Beamten, die den Pub dazu genutzt hatten, sich neue Informationsquellen aus der Szene dieses verrufenen Stadtteils zu erschließen, wurden jetzt sehr kühl empfangen. Selbst ein frei herumlaufender Serienmörder konnte die Leute nicht dazu bringen, wieder zu der Gewohnheit zurückzukehren, die Polizisten mit Informationen zu füttern.
Merrick schaute sich mit seinem geschulten Blick die anderen Gäste an und klassifizierte sie. Nutte, Dealer, Strichjunge, Zuhälter, reicher Mann, armer Mann, Bettler, Spießer … Carols Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Was meinen Sie dazu, Don?« hörte er gerade noch.
»Entschuldigung, Ma’am, ich war weggetreten. Was soll ich wozu meinen?«
»Daß es langsam Zeit wird, daß wir eigene Schnüffler in die Strichszene einschmuggeln, damit wir uns nicht immer nur auf die Mädchen von der Sitte verlassen müssen. Die kann man doch höchstens fragen, ob es draußen regnet oder schönes Wetter ist.«
»Die Nuttenszene ist meiner Meinung nach unwichtig«, sagte Merrick. »Was wir verdammt eher brauchen sind Erkenntnisse, was in der Schwulenszene abläuft. Ich meine damit nicht die Typen, die sich offen als Schwule bekennen und im Höllenloch rumsitzen. Ich meine die, die insgeheim schwul sind, die nicht rumstolzieren und es lauthals verkünden. Unter ihnen könnte es welche geben, die dem Mörder schon mal begegnet sind. Nach allem, was ich bisher über Serienmörder gelesen habe, töten sie manchmal nicht gleich beim erstenmal, sondern machen zunächst ein paar Versuche. Genauso, wie es der Yorkshire Ripper auch getan hat. Vielleicht versteckt sich irgendwo ein völlig verängstigter Schwuler, der mal von einem Typen, der seine Gewalttätigkeit nicht unter Kontrolle hatte, übel zugerichtet worden ist. Das könnte uns zum Durchbruch bringen.«
»Und weiß Gott, wir brauchen einen Durchbruch«, sagte Kevin.
»Aber wenn wir nicht wissen, wie der Kontakt zwischen Opfer und Täter zustande gekommen ist, wie sollen wir dann Anknüpfungspunkte finden?«
Carol machte ein nachdenkliches Gesicht und erklärte dann:
»Wenn du was nicht weißt, frag einen Polizisten.«
»Wie meinst du das?« Kevin sah sie neugierig an.
»Auch bei der Polizei gibt es Schwule, die ihre Neigung ja noch mehr als andere geheimhalten müssen. Sie werden uns sagen können, wie man in so einer Lage Kontakte knüpft.«
»Das ist aber kein Ansatz zur Lösung des Problems«, entgegnete Kevin. »Wenn diese Leute so auf Geheimhaltung ihrer Neigung aus sind, wie sollen wir dann rausfinden, wer denn nun schwul ist?«
»In London gibt es eine Vereinigung schwuler und lesbischer Polizisten. Wir könnten uns unter Zusicherung absoluter Geheimhaltung mit diesen Leuten in Verbindung setzen und um Hilfe bitten. Sie haben sicher auch
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