Das Lied der Sirenen
es in jedem Fall als Schwäche auszulegen ist, wenn man jemandem zeigt, daß man sich zu ihm hingezogen fühlt.«
»Ich komme mir vor wie eine Idiotin«, sagte Carol, ohne zu wissen, warum sie sich so öffnete. »Ich hatte kein Recht, irgendwas von Ihnen zu erwarten. Und jetzt bin ich wütend auf mich selbst.«
»Und natürlich auch auf mich.« Die Angelegenheit entwickelte sich weniger traumatisch, als Tony befürchtet hatte. Seine psychologisch-therapeutischen Techniken waren trotz mangelnder Anwendung in letzter Zeit doch noch nicht ganz eingerostet, wie er erleichtert feststellte.
»Vor allem auf mich«, sagte Carol. »Aber damit kann ich leben. Wichtig für mich ist, daß wir unseren Fall erfolgreich durchziehen.«
»Für mich auch. Es ist für mich eine seltene Ausnahme, auf jemanden von der Polizei zu stoßen, der Verständnis und Interesse dafür aufbringt, was ich zu erreichen versuche.« Er nahm die auf dem Schreibtisch liegenden Papiere in die Hand. »Carol … Es liegt nicht an Ihnen, verstehen Sie. Es liegt an mir. Ich habe Probleme, mit denen ich erst einmal fertig werden muß.«
Carol sah ihn lange und mit hartem Blick an. Panik durchzuckte ihn, als er merkte, daß er den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten konnte. Er wußte nicht, was in ihr vorging, was sie fühlte.
»Ich verstehe, was Sie da sagen«, entgegnete sie mit kalter Stimme. »Und da wir gerade von Problemen reden«, fügte sie hinzu, »haben wir nicht eine Menge Arbeit zu erledigen?«
Carol saß allein mit Tonys Profil des Serienmörders in seinem Büro. Er hatte es ihr zu lesen gegeben, während er draußen im Vorzimmer mit seiner Sekretärin die Post aufarbeitete, die in den wenigen Tagen, seit Brandon ihn so überraschend angeheuert hatte, zu einem hohen Stapel angewachsen war. Carol erinnerte sich nicht, daß sie jemals während ihrer Zeit bei der Polizei von einem Bericht so fasziniert gewesen war. Wenn das die Zukunft polizeilicher Ermittlungsarbeit war, wollte sie unbedingt dabeisein. Sie kam zum Ende des Hauptteils und wandte sich dann einem gesonderten Blatt zu.
Zu ermittelnde Punkte:
Hat eines der Opfer je einem Freund/Verwandten gegenüber geäußert, daß es einem homosexuellen Annäherungsversuch ausgesetzt war? Wenn ja, wo und von wem?
Der Mörder pirscht sich an seine Opfer heran. Die erste Begegnung mit dem Opfer findet lange Zeit vor dem Mord statt – eher Wochen als Tage vorher. Wo ereignet sich diese Begegnung? Es könnte ein ganz banaler Ort sein – zum Beispiel dort, wo die Opfer ihre Kleidung chemisch reinigen lassen, dort, wo sie ihre Schuhe reparieren lassen, dort, wo sie regelmäßig Sandwiches kaufen, dort, wo sie an ihren Wagen neue Reifen aufziehen oder den kaputten Auspuff reparieren lassen. Da sie alle in leicht erreichbarer Nähe des Straßenbahnnetzes wohnten, sollten wir meiner Meinung nach überprüfen, ob sie regelmäßig die Straßenbahn für die Fahrt zur und von der Arbeit benutzten oder auch zu Fahrten am Abend in der Freizeit. Ich schlage ferner vor, daß wir ihren privaten Hintergrund intensiv durchleuchten, von Bankauszügen über Kreditkartenabrechnungen bis hin
zu Anekdoten aus ihrem Leben, die Kollegen, Freundinnen oder Familienmitglieder zu erzählen wissen. Vielleicht schälen sich dabei Verdächtige heraus.
Gibt es Hinweise darauf, daß die Opfer sich die fragliche Nacht für irgendwelche bestimmten Zwecke freihielten? Gareth Finnegan hat seine Freundin in dieser Hinsicht angelogen – haben es auch andere Opfer getan?
Wo begeht er die Morde? Wahrscheinlich nicht in seinem Haus oder seiner Wohnung, denn er wird die Möglichkeit, daß man ihn verdächtigt und eventuell festnimmt, einkalkuliert haben, und es würde ihn quälen, wenn er sich bei den Folterungen und Morden vor dem Hinterlassen forensischer Spuren hüten müßte. Er muß über einen Raum verfügen, der groß genug ist, um seine Folterapparate, von deren Vorhandensein wir ausgehen können, zu bauen und einzusetzen. Es kann sich um eine abseits liegende Garage oder um einen Raum in einer Industrieanlage, die ganz oder zumindest nachts verlassen ist, handeln. Er wohnt, wie bereits dargelegt, mit großer Wahrscheinlichkeit in Bradfield, und wir sollten auch die Möglichkeit ins Auge fassen, daß er ungestörten Zugang zu einem abgelegenen ländlichen Anwesen hat.
Er muß sich irgendwo Kenntnisse über Foltergeräte beschafft haben, um in der Lage zu sein, sie für seine Zwecke zu bauen. Es könnte sich lohnen, in
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