Das Lied der Sirenen
»Schwulenmörders« seine Leiche in einer Schwulengegend abgelegt. Einem unzufriedenen und geistig verwirrten Klienten des Anwaltsbüros wäre so etwas ohne weiteres zuzutrauen. Wenn ich Glück hatte, würde man sogar diesem Miststück die Hölle heiß machen.
Ich fuhr ins Stadtzentrum zur Hauptpost und gab mein Päckchen auf. Es standen so viele Leute vor den Schaltern, die in letzter Minute noch Weihnachtsgeschenke wegschickten, daß ich überhaupt nicht auffiel. Auf der Rückfahrt hielt ich bei einem Getränkeladen an und kaufte eine Flasche Champagner. Normalerweise trinke ich nicht bei der Arbeit, aber hier handelte es sich schließlich um eine ganz besondere Gelegenheit.
Als ich zur Farm zurückkam, war Gareth noch halb bewußtlos und murmelte unverständliches Zeug vor sich hin. »Der Weihnachtsmann ist da!« rief ich fröhlich, als ich die Kellertreppe hinunterstieg. Ich öffnete die Champagnerflasche und schenkte zwei Gläser ein. Eines davon trug ich zu Gareth hinüber, stellte mich auf die Zehenspitzen und hob sanft seinen herunterhängenden Kopf hoch. Dann hielt ich ihm das Glas schräg an die Lippen. »Das wird dir schmecken«, sagte ich. »Es ist Dom Perignon.«
Er riß die Augen weit auf. Einen Moment lang sah er verwirrt aus, dann erinnerte er sich, und er starrte mich haßerfüllt an. Aber er hatte Durst, konnte dem Champagner nicht widerstehen. Er schluckte ihn gierig wie Wasser hinunter, genoß das köstliche Getränk nicht im geringsten. Dann rülpste er mir absichtlich ins Gesicht, und in seinen Augen zeigte sich ein Ausdruck seltsamer Befriedigung.
»Das war also Verschwendung«, sagte ich wütend. »Wie alle schönen Dinge im Leben an dich verschwendet wären.« Ich trat ein Stück zurück und schlug ihm das Glas ins Gesicht. Es zerklirrte an seinem Nasenbein und schnitt tiefe Risse in seine Wange. Ich war froh, daß Tante Doris nicht zurückkommen würde. Man hatte ihr sechs dieser dünnen Kristallgläser zur Silberhochzeit geschenkt, und sie hatte sie aus Angst, jemand könnte eines davon zerbrechen, nie benutzt. Sie hatte recht gehabt, sich um die Gläser zu sorgen.
Gareth schüttelte den Kopf. »Sie sind widerlich«, nuschelte er. »Das Böse in Person.«
»Nein, das bin ich nicht«, sagte ich sanft. »Ich bin die Gerechtigkeit in Person. Weißt du noch, was Gerechtigkeit ist? Das ist das, wofür du einmal einzutreten hattest.«
»Du irrer, bösartiger Bastard«, war seine Entgegnung.
Ich konnte es kaum glauben, daß er noch immer das Durchhaltevermögen für eine so herausfordernde Reaktion aufbrachte. Es wurde Zeit, ihm zu zeigen, wer hier der Boß war. Ich hatte seine Hände bereits mit zwei Bolzennägeln an das Kreuz genagelt. Das Blut um die Nägel hatte sich zu harten schwarzen Klumpen verfestigt. Jetzt waren seine Füße an der Reihe.
Als er sah, daß ich mein Werkzeug holte, brach er dann doch psychisch zusammen. »Bitte, das muß doch nicht sein«, sagte er verzweifelt. »Bitte! Sie können mich immer noch laufenlassen. Man wird Sie nie finden. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Ich weiß nicht, wer Sie sind, wo Sie wohnen, welchen Beruf Sie haben. Sie könnten aus Bradfield weggehen, dann wird man Sie nie finden.«
Ich trat näher vor ihn hin. Tränen stiegen in seine Augen, quollen über und liefen durch das Blut und die Schnitte auf seinen Wangen. Das muß geschmerzt haben, aber er ließ es sich nicht anmerken. »Bitte!« flüsterte er. »Es ist noch nicht zu spät. Auch wenn Sie die anderen Männer getötet haben. Sie waren es doch, der sie umgebracht hat?«
Er war clever, das mußte ich zugeben, zu clever, und das war nicht zu seinen Gunsten. Er hatte sich gerade zusätzliche Leiden eingehandelt. Ich drehte mich um und legte die Bolzennägel und den Hammer zurück auf die Werkbank. Laß ihn denken, ich hätte es mir anders überlegt. Laß ihn die Nacht in der Hoffnung verbringen, ich würde Gnade walten lassen. Dadurch würde der Weihnachtstag um so schöner für mich. Ich schloß die Falltür hinter mir und ging, mit meinen Videos und der fast noch vollen Champagnerflasche bewaffnet, ins Bett. Ich würde das schönste Weihnachten erleben, das ich je gehabt hatte. Ich erinnerte mich an all die Jahre der verzweifelten Hoffnung und des Betens, daß meine Mutter mir zu diesem Weihnachten Geschenke machen würde, wie sie die anderen Kinder auch bekamen. Aber sie hatte mich Jahr für Jahr nur aufs neue gedemütigt. Jetzt hatte ich herausgefunden, daß der einzige
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